Der Klang der Sehnsucht - Roman
garaj kar barso, megh raj ko megh rag se bulavo
Tosender Regen ströme hernieder, beschwöre den Raga Megh, rufe den König des Regens.
»Ja«, sagte Kalu. »Aber es gibt noch zwei Fassungen.«
Der Guruji lächelte. »Der dritten Fassung zufolge verließ Tansen Agra mit hohem Fieber. Als er aufhörte zu singen, beruhigte sich das Feuer, aber es war noch nicht gelöscht. Tansen verließ also den Hof und reiste zurück nach Gwalior.
Es ist heiß. Schließlich kann er nicht mehr laufen und bricht, angezogen vom Geruch des Wassers, an einem Brunnen zusammen. Glücklicherweise sieht Banno, eine Frau aus einer unteren Kaste, den bewusstlosen Tansen am Brunnen liegen. Sie ist selbst Sängerin und erkennt die Symptome des Raga Dipak. Banno weiß jedoch nicht, dass es sich bei dem Mann um den berühmten Tansen handelt. Sie erkennt nur, dass er vor Fieber glüht. Um seine Qualen zu lindern, stimmt sie den Wolken-Raga an, so wie sie es für jeden Kranken getan hätte, denn das war ihre Natur.«
Diesmal übernahm der Vaid die Rolle des Sängers und Erzählers. Seine Stimme war höher als die seines Bruders. Nicht so geschult, aber doch melodisch.
Garaj, garaj kar barso, megh raj ko megh rag se bulavo
Tosender Regen ströme hernieder, beschwöre den Raga Megh, rufe den König des Regens.
»Aber auch das ist vielleicht nicht das Ende der Geschichte«, sagte Kalu, den Blick auf Vaid Dada gerichtet.
»Nein, Beta, ganz recht, auch das ist nicht das Ende. In Gujarat gibt es noch eine andere Version. Sie ist dieser Tage nicht mehr so bekannt. Ihr zufolge vermag Tansen die Hitze in seinem Körper und die Hitze in Agra nicht mehr zu ertragen und reist nach Gujarat in die Stadt Vadnagar. Ein Brahmane – auch Musiker –
bietet Tansen Unterkunft an. Seine Töchter Tani und Riti singen den Wolgen-Raga für Tansen. Ihr Gesang ist so herrlich, dass die Hitze in Tansen erlischt, als wäre Regen gefallen.«
Zwei Stimmen ertönten, die kräftige des Guruji und Vaid Dadas weiche.
Garaj, garaj kar barso, megh raj ko megh rag se bulavo
Tosender Regen ströme hernieder, beschwöre den Raga Megh, rufe den König des Regens.
Der Refrain tat Kalu ebenso wohl wie die mit Honig ummantelte Arznei, die Vaid Dada ihm auf die Zunge legte.
»Überglücklich kehrt Tansen an den Hof zurück. Akbar ist so beeindruckt von dem, was er von den Stimmen und der Schönheit der beiden Mädchen hört, dass er einen Sondergesandten schickt, um sie an seinen Hof zu holen. Doch anders als Tansen lehnen sie das Angebot ab. Akbar ist darüber so erbost, dass er seinem Heer befiehlt, Vadnagar anzugreifen.
Als die Mädchen die heranstürmenden Streitkräfte sehen, beschließen sie, sich lieber zu verbrennen, als sich gefangen nehmen zu lassen.
Jedes Jahr wird an Tansens Grabmal ein Musikfestival abgehalten, zu dem Musiker aus ganz Indien kommen, um Tansen und seiner virtuosen Darbietung des Raga Dipak zu huldigen.«
»Aber was ist mit den Mädchen?«, fragte Kalu, der sich nun schon besser fühlte.
»In Gujarat wird auch jedes Jahr ein Fest zu Ehren von Tani und Riti abgehalten«, erwiderte Vaid Dada.
»Heute noch besuchen Musiker – sogar Popmusiker aus dem Panjab – den Tempel, den man an Bannos Brunnen errichtet hat. Und an Tansens Grab steht ein kleiner Tamarindenbaum«, sagte Vaid Dada nun so leise, dass die Worte Kalus wie seine eigenen Gedanken erschienen. »Es heißt, wenn ein Sänger ein Blatt von diesem Baum isst, wird seine Stimme kräftig und weich
zugleich. Aber soweit ich weiß, gibt es keine Hinweise auf Tani, Tansens Jugendliebe, oder Husani seine Frau, und keine Geschichte über das Leid des Brahmanen oder die Gefühle seiner Töchter, als sie sich wegen der Schönheit ihrer Stimmen verbrannten.«
Kalu schloss die Augen und drehte sich auf die Seite. Der Gesang ertönte noch immer in seinem Kopf. Sein Atem ging ruhig und regelmäßig, und er schlief ein.
*
»Tee?« Ashwin setzte sich zu Kalu, der den Kopf schüttelte.
Die beiden saßen dicht nebeneinander in dem kleinen Tempel im Garten. Der Himmel über den Bergen färbte sich gerade rosa. Die Flamme der kleinen Butterlampe strahlte hell wie die Mittagssonne. Ashwin hielt die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Kalu betete aufrecht sitzend. Als das Blau des Himmels mit seiner steigenden Flut die rosigen Schleier und orangefarbenen Flammen verdrängte, erhoben sie sich.
Kalu half Ashwin auf. Es war das erste Mal seit seiner Rückkehr, dass er ihn berührte. Arm
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