Der Klang der Sehnsucht - Roman
in Arm gingen die beiden zurück in die Küche. Keiner hatte das Herz, die Lampe zu löschen.
*
Kalu kletterte den Berghang hinauf und blieb erst stehen, als er völlig außer Atem war und seine Beine zitterten. Es war ein kühler Tag, aber er schwitzte vor Anstrengung. Tief unter ihm lag sein Zuhause und noch tiefer im Tal das Dorf. Er setzte sich auf einen schmalen Felssims, nahm den Flötenkasten vom Rücken und entschied sich, beinahe unbewusst, für die Rosenholzflöte.
Der Boden war feucht, und schwere Wolken hingen über ihm. Stille umgab ihn. Die Atmosphäre um ihn verdichtete sich. War nur seine Sehnsucht so stark oder hatte der Geist seines Freundes sich zu ihm gesellt?
Er begann zu spielen. Eine leichte Melodie. Das sanfte Sehnen einer Blume, die darauf wartete, von einer Biene bestäubt zu werden. Der Ruf eines flüggen Vogels, der zum ersten Mal allein ist. Der Klang der Flöte hüllte ihn ein. Während er spielte, erkannte Kalu, dass es nicht allein der Verlust seines Freundes war, der ihn schmerzte. Sein Schmerz rührte auch daher, dass jener Moment zwischen Leben und Tod sein Spiel und damit auch ihn selbst verändert hatte. Auf dem schmalen Grat zwischen Ekstase und Verzweiflung hatte er seine letzte Weihe erhalten.
Alles war still, nur sein Spiel erklang. Als die ersten Regentropfen fielen, verwandelte es sich in den Schrei eines Kaninchens, das von einem Bussard geschlagen wird, in den verzweifelten Ruf einer Mutter, die ihren Sohn in einer Menschenmenge verloren hat und fürchtet, ihn nie wiederzusehen. Verlust und Sehnsucht lagen eng beieinander.
Kalu wusste nicht, ob er sich jemals so ganz und gar der Musik hingegeben hätte, wenn es nicht um Bals Leben gegangen wäre. Dennoch war dies ein Preis, den er nie gezahlt hätte, hätte er die Wahl gehabt.
Er stockte, als er in seinem Spiel Bals Stimme vernahm. Die Worte, die Bal damals zu ihm gesagt hatte, als er das erste Mal nach Hastinapore zurückgekehrt war. »Du kannst nicht mehr zurück, Kalu. Nur noch vorwärts.« Er wusste, dass Bal immer bei ihm sein würde. Ob er spielte oder nicht. Ob er wollte oder nicht.
Kalu spielte, bis sein Geist ebenso erschöpft war wie sein Körper. Als die Wolken dünner wurden und nur noch leichter Regen fiel, hörte er auf. Er fröstelte, als er die Flöte wieder in den Kasten legte, und machte sich an den langen, feuchten Abstieg.
Tulsi beobachtete ihn aus ihrer Höhle über ihm. Sie seufzte und flüsterte seinen Namen, bevor sie den breiteren Pfad zurück ins Dorf nahm.
*
Kalu lag in seinem Zimmer und hörte, wie die Sarod gestimmt wurde. Er sah die Mondsichel am Himmel. Sie war so schmal, dass die Sterne besonders hell funkelten. Die Mondsichel in Gott Shivas Haar. Der Klang der Sarod erfüllte die Luft, und Kalu wartete.
Doch diesmal war das Spiel des Guruji anders, ebenso stark und voll wie sonst, aber ruhiger. Wie das Rauschen des Windes in den Bergen, der die kleinsten Gebirgsblumen zum Schwanken bringt. Es klang wie das Lachen einer Frau, nach Freundschaft und Hoffnung.
Kalu hatte den Guruji noch nie so spielen hören. Er kletterte aus dem Bett und ging ins Musikzimmer, wo er sich leise auf dem Boden neben dem Guruji niederließ.
Der Mann war so versunken in sein Spiel, dass er Kalu nicht bemerkte. Und während er spielte, rannen ihm Tränen übers Gesicht, und zugleich wurde es, beleuchtet nur von den Sternen und der Mondsichel, von einem Lächeln erhellt.
Die letzten Töne verklangen. Kalu nahm seinem Meister das Instrument ab. »Ich habe mich nie bei Ihnen bedankt. Dass Sie mich abgeholt haben und für alles, was Sie mir gegeben haben. Dass Sie da waren, als ich Sie am meisten gebraucht habe.«
»Du hast mir mehr gegeben, als ich mir erhoffen konnte«, sagte der Guruji. Er ergriff Kalus Hand und presste sie an seine Wange.
Kalu spürte die Wärme und verstand seine Tränen.
Kapitel 13
»Sie hat sich ziemlich verändert, seit sie spricht, findest du nicht?«, fragte Martin.
»Wer?«
»Tulsi natürlich! Sie ist doch gerade erst gegangen. Hast du sie
schon vergessen? Sie ist gewachsen, seit ich das letzte Mal hier war. Und ihre Stimme! Ich hätte sie kaum erkannt.«
Kalu, noch ganz erfüllt von seiner Musik, nahm ein heißes Chapati und legte es auf den Teller. Während sie aufwuchsen, hatte er gar nicht mehr wahrgenommen, dass Tulsi nicht sprechen konnte. Sie hatten einander auch so mühelos verstanden. Als sie eines Tages zu summen, dann zu singen und später zu sprechen
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