Der Klang der Sehnsucht - Roman
nicht zu reden von seinen Kopfschmerzen.
Er kletterte ins Freie und folgte dem Pfad, der immer breiter wurde und schließlich auf eine Straße traf. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, als er in Hastinapore ankam. An jenem ersten Tag hatte Ganga Ba ihm seinen Namen gegeben und ihn dafür, dass er Botengänge für sie erledigte, mit Milch und Essensresten versorgt.
An sein Leben vor diesem Tag hatte Kalu keine Erinnerung. Weder an einen Geruch noch an ein Geräusch. Nichts. Falls er eine Familie besaß, gab es keinen Hinweis auf sie. Die Sachen, die er damals getragen hatte, waren verschlissen und inzwischen längst ausgetauscht worden. Geblieben waren nur die Alpträume, von denen er nicht wusste, ob sie alt waren oder neu.
Doch Kalu fragte sich nie, ob er eine Familie hatte, warum er so sprach, wie er sprach – rasch und flüssig –, oder sich benahm, wie er sich benahm. Auch niemand anders schien sich das zu fragen. Die meisten, denen er begegnete, neigten ohnehin nicht dazu, viele Fragen zu stellen. Woher jemand kam oder wohin er ging, ging nur ihn selbst etwas an. Nur Menschen, die in festen Häusern lebten, stellten Fragen, aber auch die fragten nicht nach der Vergangenheit des kleinen Jungen. Vielleicht hatten sie Angst vor der Verantwortung, die die Antwort mit sich bringen würde.
Kalu verbrachte seine Tage mit Arbeiten, Spielen und der ständigen Suche nach Nahrung und Unterschlupf. Von Zeit zu Zeit
kehrte er auch zu seinem Baum und dem unterirdischen Tempel zurück.
Seit seiner Verletzung war er nicht dort gewesen. Er hatte sich eingeredet, zu beschäftigt zu sein, um den abgelegenen Tempel zu besuchen. Nun, da er wieder gehen konnte, gestand er sich die Wahrheit ein. Er hatte gefürchtet, sein Fuß könnte ihn im Stich lassen, so fern von aller Hilfe. Er streckte das Gelenk. Der Weg war weit, aber der Vaidji hatte gesagt, sein Knöchel würde zwar eine Weile steif bleiben, doch er dürfe ihn belasten. Außerdem hatte er dem Jungen geraten, einen ruhigen Ort aufzusuchen, an dem er von Menschen ungestört üben könne. Kalu war überzeugt, dass er es schaffen würde, wenn er sich vorsah und langsam ging.
Im Inneren des Höhlentempels war es kühl und dunkel. Ganz gleich, wie unbarmherzig die Sonne brannte, durch die feinen Spalten drang kaum etwas von ihrer Hitze. Es war für Kalu nicht auszumachen, ob man den Tempel unter dem Baum angelegt hatte oder ob der Baum erst später aus dem Tempel gewachsen war. Jedenfalls kannte Kalu keinen anderen Zufluchtsort, der ihm diese Ruhe und Einsamkeit geboten hätte. Wie um Kalu Gesellschaft zu leisten, wehte eine ständige Brise durch die Höhle und sorgte für frische Luft. Und wenn die goldenen Strahlen der Sonne sich in Silber verwandelten, trug das Mondlicht den süßen Duft der Rat-ki-Rani, der Königin der Nacht, herein.
Kalu umschlang den Shiv-ling aus schwarzem Stein und zog Energie und neue Lebenskraft aus seiner kühlen, glatten, polierten Oberfläche. Hier würde er schlafen. Tief und traumlos. Hier konnte er sich ganz auf das Versprechen konzentrieren, das er dem Vaid gegeben hatte.
Kalu spielte die steigenden und fallenden Tonreihen, die dieser ihm beigebracht hatte. Raga Bhairav hatte der Vaid die Melodie genannt, die so viel schöner war als sämtliche Schlager, die er aus Filmen kannte. Aber auch viel schwerer. Dies sei der erste
Raga, den er lernen müsse, hatte der Vaid gesagt, und überhaupt der erste, der je gespielt worden sei. Shiva selbst habe ihn geschaffen. Kalu hatte dies sofort begriffen, als der Vaid ihm die ersten acht Töne zeigte, so süß und schwer war der Klang des Raga Bhairav. Kalu spielte ihn nun jeden Tag. Den ganzen Tag.
Morgens, sobald die Sonne aufging, verließ der Junge den Tempel für eine Stunde, um in einem Bach bei den Reisfeldern ein Bad zu nehmen und anschließend ein paar Früchte zu stehlen. Früher hatten ihm solche Raubzüge Riesenspaß bereitet. Obst, das er den Feldarbeitern vor der Nase wegstibitzt hatte, schmeckte doppelt süß. Jetzt diente es ihm nur dazu, den größten Hunger zu stillen. Jeder Bissen ein Ton. Hatte er eine saftige Mango ergattert, musste er gleich noch ein Bad im Bach nehmen. Mit klebrigen Fingern konnte er nicht üben. Anschließend kehrte er so schnell wie möglich in seine Höhle zurück. Um den einen Raga zu spielen. Nur den einen Raga.
Der Vaid hatte gesagt, er solle so lange üben, bis er sich bereit fühle, zurückzukehren. Doch der Gedanke an das Versprechen, das
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