Der Klang der Sehnsucht - Roman
er dem Vaid gegeben hatte, trat immer weiter in den Hintergrund, und die Musik wurde für Kalu wichtiger als alles andere. Häufig vergaß er sogar, etwas zu essen. Er musste nicht mehr daran denken, wie jeder Ton klingen sollte oder wie die einzelnen Töne sich aneinanderzufügen hatten. Kalu spielte und spielte. Stunden wurden zu Tagen und Tage zu Wochen.
Bis eines Nachts wieder der Vollmond aufging und mit seinem Licht kühle, blaue Schatten auf die Erde warf. Kalu spielte mit geschlossenen Augen und dachte an den Fluss, der sich seinen Weg zum Meer bahnte. Stellte sich vor, wie die Fische durch die Strömung glitten, sich schlängelnd wie Drachen im Wind. Dann spielte er, wie der Wind durch die Blätter rauschte, ehe er sich wieder hinauf in den Himmel schwang.
Kalu war so in sein Spiel versunken, dass er die Schlange, die sich um den Shiv-ling wand, gar nicht bemerkte. Nicht einmal
als sie sich aufrichtete und sich im Rhythmus zu seiner Musik wiegte, sah er sie. Ihr Körper war lang und dick wie eine Banyanwurzel. Moschusgeruch breitete sich in der Höhle aus. Zuerst mischte er sich mit dem Duft der Mograblüten, verdrängte diesen jedoch, als die Schlange, nachdem sie den Raum einmal umkreist hatte, wieder zum Lingam zurückkehrte und sich mit gespreizter Haube vor dem Jungen erhob.
Ganz im Bann der Schwingungen, die der in sein Spiel vertiefte Junge seiner Flöte entlockte, folgte sie den Bewegungen seiner Finger. Die Töne wechselten die Farbe, stürmten gegen ihn an und hallten aus anderen Winkeln des Raumes wider, konnten nicht mehr frei schweifen wie bisher. Kalu öffnete die Augen, die sich beim Anblick der Schlange weiteten. War das, was er sah, Traum oder Wirklichkeit? Er wusste es nicht. Noch immer im Netz seines Raga verfangen und ebenso verzaubert von der Schlange wie sie von ihm, spielte Kalu und spielte. Wiegte sich im Einklang mit der Schlange, bis seine Lippen aufgesprungen und seine Finger geschwollen waren. Aber er spürte nichts davon. Als die bleichen Strahlen der Morgensonne in den Tempel drangen, wurden die Töne weicher und klarer, bis sie sich deutlich voneinander unterschieden.
Die Schlange erschauerte, bevor sie zu Boden glitt und mit einer fließenden Bewegung durch einen Spalt zwischen den Steinen verschwand. Ihr Tanz hatte tiefe Furchen im Boden hinterlassen. Kalu riss die Augen auf, bis sein ganzes Gesicht nur aus Augen zu bestehen schien. Schlangen dieser Größe waren in Hastinapore unbekannt.
Er legte seine Plastikflöte beiseite und fuhr mit der Hand die Vertiefungen nach, die die Schlange zurückgelassen hatte. Er beugte sich darüber und sog den moschusartigen Duft ein, ehe er sich darin wälzte und mit seinem Körper den Geruch und die Wärme aufnahm, die in die Erde eingedrungen waren, bis er erschöpft in dem Bett einschlief, das die Kobra ihm geschaffen hatte.
Erschrocken fuhr Kalu auf. Die Sonne schien ihm in die Augen. Es war beinahe Mittag, der Morgen längst vorüber. Er sah zu Boden und versuchte, sich an seinen Traum zu erinnern. Er lächelte, als er die schnurartige Spur sah, die aus dem Tempel hinausführte. Eine Schlange hatte ihn besucht und sein armseliges Spiel gewürdigt. Sein Blick folgte der Spur und fiel auf die Stelle auf der Erde, wo er geschlafen hatte.
Überall war die Erde weich, nur direkt neben seiner Hand schien etwas Hartes im Boden zu liegen. Kalu fing an zu graben, erst zaghaft, dann immer schneller, bis er schließlich richtig wühlte. Als er sah, dass eine lange Flöte im Boden verborgen lag, grub er langsamer. Er hob sie auf und nahm sie fest in beide Hände. Das Holz war glatt poliert von all den Jahren im Sand. Es war eine Querflöte. Für erwachsene Männer. Kalu legte die Fingerkuppen auf die mit Erde gefüllten Öffnungen. Er hörte, wie auf der Flöte gespielt wurde. Sah, wie Menschen applaudierten. Ganz vorne in der Menge stand der Vaid und lächelte. Kalus Finger hielten inne, und die Musik erstarb. Es war Zeit für ihn, nach Hastinapore zurückzukehren.
Kapitel 3
»Ganga Masi! Malti! Wo seid ihr?«, rief Kalu, als er, gefolgt von einer Staubwolke, ins Haus rannte.
»Aré, Kalu – wo warst du denn die ganze Zeit?« Die Dienstboten eilten herbei und versammelten sich im Vorderzimmer. Vor lauter Neugier ließen sie alles stehen und liegen. Alle wollten Kalu sehen und hören, was er zu erzählen hatte. Ganga Ba, die sich oben in ihrem Zimmer hingelegt hatte, brauchte etwas länger. Später berichtete sie ihren Freundinnen,
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