Der Klang der Sehnsucht - Roman
allein Kalus klare Stimme hätte sie aus ihrem Schlaf wecken können. »Diese Frauen, die nichts zu tun haben, schlafen wie kleine Vögel. Ni
cken kurz ein, und schon sind sie wieder wach. Zu meiner Zeit schlief man oder man arbeitete. Ganda-giri – Herumgealber – war nicht erlaubt. Wirklich, kein anderes Geräusch hätte mich wecken können.« Ihre Freundinnen pflichteten ihr bei und machten sich damit das Leben leichter.
Malti kam ins Zimmer gerannt und schloss Kalu in die Arme. Ganz fest. »Wo hast du dich rumgetrieben, du Blödmann?« Als sie zuerst sein Schlüsselbein und dann die Handgelenke betastete, erschrak sie, wie wenig von dem sowieso schon mageren Jungen noch übrig war. Sie schüttelte ihn nur kurz, weil er ihr allzu zerbrechlich erschien.
Immer wieder hatte Malti sich eingeredet, Kalu sei bestimmt in Sicherheit. Dennoch gab es Momente, vor allem kurz vor dem Einschlafen, in denen ihr eine innere Stimme etwas von Kindesentführung zuflüsterte. Zwar kannte Ganga Ba den Vaid, aber Malti musste dennoch oft an ihre in Bombay verschollene Freundin denken.
»Aré, lass den undankbaren Lümmel los, Malti. Schau, was er dir für einen Haufen Schmutz auf dem Boden hinterlassen hat! Wie siehst du denn aus, Junge? Als hättest du einen Monat lang nichts gegessen. Konnte der Vaidji dir nicht hin und wieder einen Bissen geben? Wo ist der Schurke? Nimmt dich einfach mit, ohne uns ein Wort zu sagen. Nicht, dass wir uns Sorgen gemacht hätten.« Ganga hielt auf der Hälfte der Treppe inne und stützte sich schwer atmend auf das Metallgeländer. Sie konnte sich jetzt nicht mehr ganz auf ihre Beine verlassen. Nicht einmal, wenn sie geruht hatte. »Aber Malti war unruhig. Vor lauter Sorge hat sie kaum etwas gegessen. Von der Arbeit will ich gar nicht reden. Na los, Mädchen, hör auf zu zetern, und bring Wasser. Und du, Kalu, hol erst mal Luft, und dann isst du was. Meine Güte, bist du schmutzig. Hast du dich im Dreck gewälzt?« Ganga Ba stupste Kalu mit spitzen Fingern gegen die Schulter, ehe sie sich auf den Diwan fallen ließ. »Schalte das heiße Wasser an, Malti. He, Bhagwan, komm her, mein Junge. Brahman,
bring ein Tuch für ihn, damit er nicht alles schmutzig macht. Komm, setz dich zu mir, aber vorher stellst du den dreckigen Stock draußen ab.«
»Aber schauen Sie doch, Ganga Ba! Das ist kein dreckiger Stock, das ist eine Flöte. Ich habe sie gefunden.«
»Eine Flöte? Wo denn? Nein, warte, setz dich erst mal. Malti! Malti! Komm und hör dir an, was der Lausebengel erlebt hat!«
Kalu setzte sich auf das Tuch. Ganga Ba, die rechts von ihm saß, trug ihr Haar in einem langen Zopf statt in dem üblichen Knoten.
Malti stand an der Treppe, ihr Rock war gerafft, wie immer, wenn sie die Böden wischte. Alle Bediensteten hatten sich versammelt. Niemand gab sich auch nur den Anschein, als würde er etwas anderes tun als zuhören.
»Der Vaid hat mir gezeigt, wie ich einen Raga auf meiner Flöte spielen kann«, begann Kalu. Er erzählte ihnen, wie er jeden Tag gespielt und die Schlange ihm die Flöte gezeigt hatte. Er erzählte ihnen nicht, welche Gefühle die Musik in ihm geweckt hatte, aber sie spiegelten sich so sehr in seinem Gesicht, dass ihn niemand unterbrach. Kein einziges Mal.
»Ein Wunder der Götter«, sagte Brahmanji, als Kalu seinen Bericht beendet hatte.
»Nein«, sagte Malti, als sie ihm einen Teller mit Früchten reichte, »die Belohnung für seine harte Arbeit.«
In den Wochen, in denen Kalu bei Ganga Ba übernachtet hatte, während sein Fuß heilte, hatte er etwas zugenommen. Die Reste aus Brahmanjis Küche und der regelmäßige Becher Milch hatten seinen eingefallenen Wangen etwas Fülle und seiner Haut ein gesundes Strahlen verliehen. Doch nun fand Malti, dass sein Gesicht eher an einen verschrumpelten, alten Apfel erinnerte. »Was hast du jetzt mit der Flöte vor?«, fragte sie.
Kalu zögerte, da er unsicher war, wie er antworten sollte. Er wusste vor allem, dass er noch mehr Stücke spielen wollte wie das, das er in seinem Tempel geübt hatte. Ihm war klar gewor
den, dass er den ganzen Tag spielen könnte, wenn ihm jemand mehr beibringen würde. In den wenigen Wochen, in denen er fort war, hatte er aufgehört, ans Überleben zu denken, und Frieden und Freude empfunden. Aber es kam ja auch darauf an, wie viel er dem Vaid noch schuldete.
»Schluss jetzt damit. Über Flöten und so was können wir auch morgen noch reden«, unterbrach Ganga Ba die kurze Stille. »Erst muss Kalu sich
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