Der Klang der Sehnsucht - Roman
nicht mehr der Mühe wert.
Seine junge Frau wartete auf ihn. Bevor er voller Hoffnung aufgebrochen war, hatte sie Shiva ein Opfer dargebracht und ihrem Mann gesagt, sie sei überzeugt, er würde Arbeit finden und die Familie ernähren können. Sie hatte ihm vertraut. Er hätte nie gedacht, dass er sie im Stich lassen würde. Die Karten waren seine letzte Zuflucht gewesen, und er hatte mit seinem Verstand auch sein Land verloren.
Er stand dicht am Ufer des Flusses und beobachtete, wie die starke Strömung das Wasser bald hierhin, bald dorthin zog. Shi
va hatte die Narmada geschaffen. Er hatte so intensiv meditiert, dass der Schweiß auf seiner Stirn zur Quelle des Flusses geworden war.
Nun würde er Shiva sein Leben geben. Vergib mir, Herr, den Schmerz, den ich ihr zufüge.
Chidananda rupah shivoham shivoham
In Gestalt ewiger Wonne bin ich die Essenz Shivas des Höchsten
Der Gesang beruhigte ihn, als er den ersten Schritt und dann den nächsten ins Wasser tat. Er hatte nie schwimmen gelernt. Dies erwies sich jetzt als ein Segen. Das Wasser nahm ihn in seine Arme. Shivas Namen auf den Lippen, schloss er die Augen und wartete auf den Frieden.
Shivoham Shivoham
Ich bin Shiva, ich bin Shiva.
Sie fanden ihn eingeklemmt zwischen Felsen. Ein Mann schlug ihm auf den Rücken, bis er das Wasser in seinen Lungen erbrach. Er fragte sich, ob er in der Hölle gelandet sei. Doch als sein Blick klarer wurde, erkannte er, dass er noch am Leben war. Das Wasser war zurückgegangen, und irgendwie hatte er in der Nacht einen Shiv-ling zwischen zwei Felsen gefunden und sich daran festgeklammert. Shivas Stein hatte die Farbe von Ebenholz, glatt und länglich. Eigentlich hätten seine Hände daran abgleiten müssen, dennoch hatte ihn der Stein vor dem Ertrinken gerettet.
Die Priester sprachen von einem Wunder. Sie hatten noch nie einen so großen und glatten natürlichen Lingam gesehen. Die meisten wurden von Bildhauern angefertigt, doch dieser war aus dem Fluss selbst geboren worden. Er war ganz offensichtlich eine glückverheißende Botschaft.
Aber ihm war klar, dass er eine Botschaft von Shiva an ihn war.
Er schenkte den Stein dem Dorf, denn er wusste, man würde ihn dort im Tempel verehren, und machte sich langsam auf den Heimweg.
*
Es war Vollmond an dem Abend, als Kalu Ganga Bas Haus verließ. Der Vaid hatte dem Jungen eine Aufgabe gestellt, und Kalu wanderte, angetrieben von einem neuen Hunger, durch den Ort, vorbei an den Häusern am Hang und am Banyan, ehe er sich vom Fluss entfernte und auf die mondbeschienenen, von dunklem Wald gesäumten Felder zusteuerte. Einige Stunden später bog er von der Straße in einen kleinen gewundenen, aber so unauffälligen Pfad ein, dass nur jemand von Kalus Größe ihn überhaupt wahrnahm, und ließ sich teils von seiner Erinnerung, teils vom Mondlicht bis an den Fuß eines riesigen Baumes leiten. Dort endete der Weg.
Kalu bückte sich und berührte ehrfurchtsvoll die Erde, wie er es immer tat, wenn er hierherkam. Diese Stelle war seine erste Erinnerung. Genau hier, wo der Pfad auf den Baum stieß, war er damals aufgewacht. Die Sonne hatte auf ihn herniedergebrannt, und sein Gesicht war mit Erde verschmiert gewesen. Ihm war, als hätte er lange und tief geschlafen. Es war ein stiller Tag. Aber in seinem Kopf drehte sich alles, als hätte er sich zu schnell bewegt. Er kroch aus der Sonne auf den Baum zu. Kein Lüftchen bewegte die Blätter, und die Vögel waren verstummt. Als er das Gestrüpp unter dem Baum teilte, fiel ihm ein nicht sehr großes, dunkles Loch auf. Zwischen den Wurzeln lag eine Öffnung, die in einen unterirdischen Raum führte.
Kalu kroch hinein. Es war angenehm kühl dort unten. Er legte die Hand an eine Wand, die aus einer Mischung aus Backstein, Erde und Wurzeln bestand. Lichtstrahlen fielen durch die Öffnung, aus welcher der Baum sich erhob, und zeichneten Muster auf den Boden. Wenn er die andere Hand ausstreckte, konnte er mit den Fingerspitzen gerade den schulterhohen Shiv-ling be
rühren, der in der Mitte der Höhle aus der Erde ragte. Er war schwarz und oben abgerundet. Schatten huschten über seine spiegelglatt polierte Oberfläche. Bis auf den Stein war die Höhle leer, und Kalu fragte sich, woher er wohl stammte.
An jenem ersten Tag hatte Kalu sich an den Stein gelehnt und lange ausgeruht. Doch schließlich hatte sein Magen so laut geknurrt, dass der Junge glaubte, vor Hunger sterben zu müssen, wenn er nicht bald etwas zu essen fand. Gar
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