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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Freundin ihrer Mutter, ihr von der Stellung in Ganga Bas Haus berichtete, wurde Malti klar, dass es bald keine Massagen mehr geben würde. Ganga Ba willigte ein, Malti ungeachtet ihrer jungen Jahre als Hausmädchen einzustellen. Leider lebte sie eine sechsstündige Busreise entfernt. Shami Bens Tochter hatte ebenfalls bei Ganga Ba gearbeitet und versicherte Maltis Eltern, die alte Dame sei zwar streng, aber gerecht. Und so hatte Malti ihr Elternhaus verlassen.
    Sie konnte sich nicht beschweren. Ganga Ba war eine bessere Herrin als viele andere, und Maltis Familie brauchte das Geld, um die Ausbildung ihres Bruders zu finanzieren. Dennoch war es dem jungen Mädchen sehr schwergefallen, ganz allein fortzugehen. Malti mochte keine Veränderungen. Für manche mochten sie das Leben besser machen, aber Malti empfand jeden Wandel als beschwerlich.
    »Freust du dich, dass du wieder zu Hause bist, Kalu?«, fragte sie im Gehen.
    »Ja, ich glaube schon. Du und ein paar andere, ihr habt mir ge
fehlt. Aber ich hatte auch sehr viel zu tun. Hast du mich vermisst?«
    »Ja. Genauso wie Raja.«
    Kalu wusste alles über Maltis Bruder Raja. Seinetwegen arbeitete Malti bei Ganga Ba. »Es gibt keine Arbeit auf dem Feld für mich«, hatte sie Kalu erzählt. Aus ihrer Familie war bisher niemand auf eine weiterführende Schule gegangen, aber ihre Mutter und ihr Vater wollten unbedingt, dass Raja studierte und einen anständigen Beruf erlernte. Malti hatte Kalu erklärt, wie wichtig das für ihre Familie war. Raja musste durchhalten, auch wenn reichere Kinder ihn hänselten, manche Lehrer unfähig und die Schulbücher teuer waren. Kalu wollte wissen, warum Raja nicht lieber fortlief oder die anderen Jungen mit einem Stock verprügelte. Malti erklärte ihm, dass ihre Eltern sich schon immer gewünscht hatten, er solle es im Leben einmal besser haben als sie. Von Kind an hatte Raja gewusst, dass er studieren sollte. Später würde er, wenn er Glück und gute Noten hatte, vielleicht Beamter werden. Bis dahin sollte Malti arbeiten, um zu helfen, das Geld für seinen Unterricht und die Bücher zu verdienen. Erst dann würde man sie verheiraten. Anfangs hatte Kalu es unsinnig gefunden, dass Raja studieren sollte, wo er doch Malti nach Hastinapore hätte begleiten können. Doch mit der Zeit lernte er den Unterschied zwischen Maltis Stellung und der von Menschen wie Ganga Ba oder selbst Jaya-shri Ben, der Frau des Panwalla, zu begreifen. Ihnen befahl niemand, was sie zu tun hatten. Vielleicht war es das, was Maltis Eltern sich wünschten. Kalu hatte seine Hilfe angeboten, aber Malti hatte gelacht und den Kopf geschüttelt. Er solle warten, bis er reich sei, bevor er großzügige Angebote mache.
    »Ist Raja schon mit der Schule fertig?«, fragte Kalu.
    »Er hat noch ein paar Jahre vor sich. Aber bald ist es so weit.«
    Raja war einige Jahre älter, aber Kalu erinnerte Malti oft an ihren Bruder. Außerdem war Kalu in den letzten Wochen in die Höhe geschossen wie der Spross einer Bougainvillea. Gerade
wegs der Sonne entgegen. Fast schmerzlich erpicht darauf, der längste und kräftigste Schössling der Ranke zu sein. Kalu war nun fast so groß wie Malti, und sie war groß für ein Mädchen. Raja hatte sie immer geneckt, dass eine solche Bohnenstange wie sie nie einen Mann finden würde. So wie Kalu wuchs, würde er sicher größer werden als sie, wahrscheinlich sogar größer als Raja.
    »Um meinen Bruder brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Denk lieber an dich. Was hast du vor? Außer diese Flöte zu säubern?«
    Sie waren am Ufer angekommen, dort, wo die Frauen jeden Morgen die Wäsche wuschen. Doch jetzt war niemand hier. Die Frauen waren zu Hause, kochten oder machten sauber. Die meisten Männer saßen im Freien unter dem Banyanbaum, erzählten sich Geschichten oder spielten Karten. Selbst die Vögel hatten das Ufer verlassen. Bald würde die Sonne untergehen.
    Malti und Kalu hockten sich in den trockenen Sand am Ufer, und Kalu begann, behutsam die Flöte zu reinigen. Zuerst rieb er die weiche, braune Erde ab, dann säuberte er mit der alten Zahnbürste vorsichtig das Holz.
    »Weißt du, Kalu, diese Flöte könnte dich überallhin führen. So gut, wie du spielst.«
    Er runzelte die Stirn. »Was würdest du tun, Malti? Wohin würdest du gehen, wenn du die Flöte hättest?«
    »Ich würde überhaupt nirgends hingehen. Ich könnte ja nicht darauf spielen, du Dummkopf. Wahrscheinlich würde ich sie dir geben!«
    Kalu schaute auf und lächelte.

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