Der Klang der Sehnsucht - Roman
bringen. Geld war nicht die Frage, es ging eher um die Verbindlichkeit. Wie es die Tradition verlangte, würde Kalu den Lehrer bezahlen, indem er im Haus arbeitete, und ihm Geld geben, sobald er später etwas verdiente. Im Gegenzug würde er Unterricht, Kost und Unterkunft erhalten. Die Lehrzeit würde so lange andauern, wie der Meister es für nötig erachtete. Voraussetzung war natürlich, dass der Meister Kalu als Schüler annahm.
Ganga Ba überprüfte die Angaben des Vaid zweimal. Sie befragte ihre Freundinnen über seinen Bruder und konnte Kalu und Malti glänzende Kunde geben. Von der Tochter einer Freundin bekam sie sogar eine Musikkassette mit Aufnahmen des Meisters von einem Konzert in Amerika. »Ich weiß nicht wieso, aber sobald diese Auswanderer nach Indien zurückkommen, denken sie, wir wüssten nichts über unsere eigene Kultur. Stellt euch vor, sie bringt ein Band von einem indischen Musi
ker aus Amerika mit! Als hätte man die indische Musik im Westen erfunden. Ihr wisst nicht, was für eine Mühe es mich gekostet hat, es zu bekommen – kurz nach diesem Konzert vor über zwanzig Jahren hat er seine öffentlichen Auftritte eingestellt.«
Malti sorgte dafür, dass sie sich immer gerade dann im Zimmer aufhielt, wenn Ganga Ba Neuigkeiten zu verkünden hatte. Wenn Kalu fortging, wollte sie genau wissen, zu wem und wohin. Damit er nicht verlorenging wie ihre Freundin.
*
Malti und Kalu saßen auf dem Beton beim Frangipani. Dort gab es abends nicht so viele Insekten. Kalu sollte in wenigen Tagen abreisen, und sie wussten, dass sie nicht mehr viel Zeit miteinander verbringen würden. Ganga Ba schaute sich die neueste Familienserie im Fernsehen an, und die anderen Dienstboten saßen unter dem Vordach, spielten Karten und plauderten. Malti und Kalu saßen an die Mauer gelehnt und vermieden es, einander anzusehen. Stattdessen schauten sie in den Himmel.
»Ich frage mich, warum es so viele Sterne gibt, Malti.«
»Ich weiß nicht, aber mein Lieblingsstern ist Dhruv-Tara.« Malti deutete zum Himmel, folgte dem Frangipani, hob ihre Hand höher, bis sie schließlich auf einen kleinen, hellen Stern zeigte.
»Dhruv-Tara?«
»Kennst du die Geschichte nicht? Als ich klein war, hat mein Vater meinem Bruder und mir manchmal abends eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt. Diese mochte ich besonders.«
»Bitte, erzähl sie mir auch.«
Malti blickte zu Kalu hinunter. »Es war einmal vor langer, langer Zeit ein kleiner Junge. Er war ungefähr in deinem Alter und hieß Dhruv. Sein Vater Uttanpad war ein großer und ruhmreicher König.«
»Ob mein Vater auch ein König war?« Kalu konnte seinen Vater beinahe vor sich sehen. Er trug einen üppigen Schnurrbart und eine funkelnde Krone aus Gold.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist sinnlos, darüber nachzugrübeln. Du bist jetzt hier, und das ist alles, was zählt. Also …« Maltis Stimme wurde tief, wie die Narmada im Winter, wenn der Fluss voll Wasser war. »Der König hatte zwei Frauen und zwei Söhne. In jenen Tagen war es den Männern gestattet, mehr als eine Frau zu heiraten. Suniti war Dhruvs Mutter, und Suruchi war Uttams Mutter. Uttam hatte das Glück, dass seine Mutter die Lieblingsfrau des Königs war und er deshalb weit mehr Aufmerksamkeit erhielt als sein Bruder.«
»Warum war sie der Liebling?«
»Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, weil sie so schön war. Sie hatte große braune Augen und volle Lippen. Und sie brachte den König zum Lachen, so dass er seine Sorgen vergaß.« Malti lachte. »Wenn mein Vater uns diese Geschichte erzählte, sagte er immer, dass Suruchi lockiges Haar hatte, genau wie meine Mutter. Mama ärgerte sich dann immer sehr. Einmal warf sie das Nudelholz nach ihm. Sie traf ihn nicht, aber es machte eine Delle in der Wand. Vater weigerte sich, sie auszubessern, sie sollte Mama immer an ihren Jähzorn erinnern. Jedenfalls wollte Suruchi, dass ihr Sohn König würde, obwohl Dhruv der Ältere war. Sie war zwar der Liebling des Königs, aber nicht sehr nett. Suniti beschützte ihren Sohn vor Suruchis Eifersucht, so gut sie konnte, aber manchmal war es einfach unmöglich für sie.
Eines Tages, als Dhruv sieben Jahre alt war, also etwas jünger als du, spielte er im Garten. Da sah er König Uttanpad in einer Laube sitzen, wo er sich an den Blumen ergötzte und dabei Dhruvs Bruder Uttam auf seinen Knien schaukelte. Uttam lachte und jauchzte. Dhruv fand, dass das sehr vergnüglich aussah, und rannte auf den König zu. ›Ich
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