Der Klang der Sehnsucht - Roman
und schritt mit der Würde eines alten Mannes auf das Haus zu.
Der Vaid saß hochaufgerichtet auf dem Diwan. Lächelnd, als würde er einen langjährigen, geschätzten Freund begrüßen, erhob er sich, als Kalu eintrat. »Kalu, mein Sohn, komm her zu mir. Ich höre, du hast Neuigkeiten für mich. Hast du den Raga gespielt? Wie ist es dir dabei ergangen?«
Kalu trat auf den Vaid zu, ohne ihn jedoch zu berühren. Er setzte sich auf den Boden neben Ganga Ba und erzählte seine Geschichte noch einmal. Diesmal wurde er immer wieder von Ganga Ba und den anderen unterbrochen.
Der Vaid stellte ihm einige Fragen, beobachtete aber vor allem
Kalus Miene beim Sprechen. Er sah die Liebe des Jungen zu seiner Musik, die Ehrfurcht vor der Schlange und seine Zurückhaltung, wenn er von der Flöte sprach.
»Darf ich die Flöte einmal sehen?«, fragte der Vaid, als Kalu innehielt.
Der Junge holte das Instrument aus Ganga Bas Haustempel. Seine Hände zitterten, als er wieder vor dem Vaid stand und ihm die Flöte reichte.
»Hier, bitte. Sie ist Ihre Bezahlung. Etwas anderes habe ich nicht. Bitte, nehmen Sie sie.« Der Vaid nahm die Flöte entgegen und setzte die Worte des Jungen in Beziehung zu seinem vorherigen Gesichtsausdruck.
»Ich habe sie gereinigt«, sagte Kalu, sich unbewusst dem Vaid zuneigend wie ein Schilfrohr im Wind.
Der Vaid schaute auf. »Du willst mir die Flöte geben? Warum?«
»Sie sagten, Ihre Behandlung habe einen Preis. Bitte … nehmen Sie sie und gehen Sie.«
Der Mann strich über die seidige Politur der Flöte. Er prüfte ihre Länge und untersuchte das Holz auf Risse. Es gab keine. Die Flöte sah aus wie neu.
»Das ist nur recht und billig«, fuhr Kalu fort. »Sie haben meinen Fuß geheilt. Die Flöte ist Ihr Honorar. Bitte, mehr habe ich nicht.«
»Hast du darauf gespielt?«
Kalu schüttelte den Kopf.
»Nein? Nun, dann möchte ich, dass du sie für mich spielst. Jetzt.«
»Bitte …« In dem Wort lag eine Mischung aus Furcht und Sehnsucht. Es war, als wüsste der Junge, dass der Preis, den er zahlte, ins Unermessliche steigen würde, sobald er einmal auf der Flöte spielte. Malti wollte etwas sagen, hielt jedoch inne, als sie Ganga Bas Hand auf ihrem Arm spürte.
»Du musst spielen. So war es abgemacht, mein Junge.« Der Vaid hielt Kalu die Flöte entgegen: »Spiel jetzt.«
»Bitte …«
»Ich will den Raga hören, Kalu. Ich will wissen, was du gelernt hast«, sagte der Vaid in milderem Ton. »Spiel.«
Kalu zog seine Plastikflöte hervor. Schon jetzt fühlte sie sich völlig ungenügend an. Ihre grüne Vorder- und gelbe Rückseite hatten Ähnlichkeit mit Kalus Gemütszustand. Er fühlte sich wertlos und ungenügend. »Ich spiele auf meiner eigenen Flöte, wenn ich muss.«
Kalus Brust hob und senkte sich. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Fußboden und schloss die Augen. Einige Minuten herrschte Stille. Kalu spielte einen sachten, so weichen Ton, dass Ganga Ba nicht zu sagen gewusst hätte, wo die Stille endete und der Laut begann. Der erste Ton ging in den zweiten, den dritten über, bis die Zuhörer alles außer dem Jungen mit der Flöte vergaßen.
Ganga Ba erinnerte sich an das Gefühl, als sie ihre Tochter das erste Mal gestillt hatte. Malti an die Geborgenheit, die sie empfunden hatte, wenn sie in den Armen ihrer Mutter schlief. Der Vaid saß reglos, erstaunt über die Töne, die der Junge dem billigen Plastikinstrument entlockte. Das Lied dauerte nur wenige Minuten. Abrupt brach Kalu ab und schleuderte die Plastikflöte von sich. Sie schlitterte über den Boden. Malti griff danach, ehe sie gegen den Tisch schlug.
»Das reicht. Mehr kann ich nicht. Jetzt nicht und nie mehr.«
»Kalu, sei ganz ruhig.« Der Vaid beugte sich vor und nahm die Hände des Jungen. »Hab niemals Angst zu spielen. Die Musik ist ein Teil von dir, ebenso wie die Tränen auf deinen Wangen. Du kannst sie nicht einfach von dir werfen. Das werde ich nicht zulassen.«
Er kniete sich neben den zitternden Jungen. »Beta, ich muss dir eine Geschichte erzählen. Sie handelt von zwei Brüdern. Als sie klein waren, waren sie sich sehr nah. Aber der eine interessierte sich von jeher mehr für Menschen, der andere für Musik. Der Jüngere saß stundenlang da, versuchte, medizinische Zeitschrif
ten zu lesen, und war ständig darauf aus, den Heilern zuzuhören. Der Ältere wollte nichts als Musizieren. Beide arbeiteten schwer, bis sie die Mittel hatten, um sich ihre Träume zu erfüllen. Doch wenn man nach einer
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