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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Straße leben, gelten andere Gesetze.«
    »Hauptsache, es macht dir nichts aus, mir was zu essen zu geben«, erwiderte Kalu. Schon bevor er bei Ganga Ba übernachtete, hatte der Brahmane ab und zu ein paar Reste für den kleinen, mageren Jungen aufbewahrt. Er hatte sie Malti gegeben und sie dann deshalb gescholten. Zwischen den beiden herrschte Krieg, solange sie sich kannten. Aber Kalu wusste, dass Brahmanji trotz seines unwirschen Tons ein gutmütiger Mann war. Heute hatte er eine kleine zusätzliche Süßigkeit auf Kalus Teller gelegt.
    Er hatte fast vergessen, wie gut Brahmanjis Dhal schmeckte. Das Geheimnis bestand in der richtigen Mischung aus Salz und Zucker. Guter Gujarati-Dhal besaß immer eine gewisse Süße. Kalu goss die Linsen über seinen Reis, formte ihn zu soßegetränkten Klößchen und schob sie sich in den Mund. Er lächelte, wenn Malti Brahmanjis sarkastische Bemerkungen parierte. Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Kalu wischte den Teller mit der Handkante sauber und fing die letzte Flüssigkeit mit der Zunge auf. Dann überprüfte er den Teller noch einmal auf ein womöglich übriggebliebenes Reiskorn, bevor er sein Wasser trank und schließlich hinausging, um sich die Hände zu waschen und seinen Teller abzuspülen.
    Wenige Minuten später kam Malti aus dem Haus. »Ich wasche das Geschirr, Kalu. Du kannst mir morgen helfen. Heute setzt du dich ein bisschen zu Ganga Ba. Sie hat deine Kulleraugen und dein Affengesicht vermisst, auch wenn sie es nicht zugibt.«
    Ganga Ba saß auf dem Diwan und sah sich gerade ihre Lieblingsserie im Fernsehen an.
    »Komm her, Kalu, setz dich und schau zu. Man kann aus diesen Sendungen viel lernen, vielleicht mehr als von diesem Vaid. Das Fernsehen hat Indien geöffnet.« Kalu setzte sich auf den Boden neben dem Tisch, wo er an jenem Abend gesessen hatte. Hätte Ganga Ba ihm einen Platz auf dem Diwan angeboten, hätte er abgelehnt. Er zog es vor, auf dem Boden zu sitzen, nahe der Erde, wo Ganga Bas Stimme über ihn hinwegrauschen konnte.
    »Siehst du das Mädchen da? Ihre Schwiegermutter ist sehr grausam, und ihr Vater hat sie auch immer geschlagen. Jetzt will sie davonlaufen, aber sie liebt ihren Mann. Was jetzt? Das dumme Ding. Sie sollte aufhören, ihre Zeit zu vergeuden, und sich benehmen wie eine gute Ehefrau.« Ganga Ba konnte mühelos die Serie verfolgen und zugleich das Thema wechseln. »Und der Vaidji – er kommt morgen zu Besuch. Anscheinend ist er gestern Abend in Hastinapore eingetroffen. Meine Freundin Sukenya Ben hat ihn zufällig gesehen. Ich habe ihr gesagt, sie soll ihm sagen, er soll morgen früh kommen. Bleib also hier.«
    Erstaunt starrte Kalu zuerst den Fernseher und dann Ganga Ba an. Wie konnte sie so viel reden und dabei weiter fernsehen?
    »Aré, guck dir das an, hast du das gesehen? Was dieser Mann getan hat? Was sind die Männer doch für Schwächlinge. Ich weiß nicht, was die sich denken.«
    Wie gut, dass Vaid Dada morgen kommen würde. So brauchte Kalu nicht nach ihm zu suchen. Auf der anderen Seite hätte er noch etwas Zeit gebrauchen können. Ein bisschen Zeit nur für sich und seine Flöte.
    Als Ganga Ba wenig später einen Blick nach unten warf, sah sie, dass der Junge eingeschlafen war. Ein Bein hatte er um ein Tischbein gelegt, das andere gerade ausgestreckt.
    Ganga Ba erhob sich, rief nach Malti und bedeutete ihr, ein Kissen und eine Decke zu holen. Ein wenig steif bückte sie sich,
schob das Kissen unter Kalus Kopf und breitete die Decke über seinen mageren Körper. Keines der Kinder in ihrer Umgebung, nicht einmal das kleinste, hatte je so zerbrechlich gewirkt, und dennoch war Kalu zäher als sie alle zusammen. Ganga Ba strich ihm liebevoll das Haar aus den Augen. Dann schaltete sie das Licht aus. Diese Nacht verbrachte Kalu unter dem Tisch in ihrem Haus.
    *
    Am nächsten Morgen wartete der ganze Haushalt gespannt auf den Vaid. Malti bat Kalu, seine neue Flöte auszuprobieren oder zumindest auf seiner Plastikflöte zu spielen, um die Spannung zu mildern, aber er weigerte sich. Stattdessen saß er draußen unter dem Frangipani, wo er das Tor quietschen hörte, sobald jemand kam.
    Er wartete ruhig mit gekreuzten Beinen und summte leise vor sich hin. Nur seine Hände öffneten und schlossen sich immer wieder und strichen über die Narben an seinem Knöchel, ehe sie sich erneut ballten. Endlich öffnete sich das Tor und fiel wieder zu.
    Kalu blieb sitzen, bis jemand laut nach ihm rief.
    »Kaaluuuu! Kalu, komm!«
    Er stand auf

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