Der Klang der Sehnsucht - Roman
Landschaft statt auf den Geruch, während die Dame neben ihm unablässig die vorbeiziehenden Ortschaften kommentierte.
Als Vaid Dada nach ein paar Stunden aufwachte, sagte er, Kalu solle sich bereithalten. An der nächsten Station müssten sie aussteigen. Sie verabschiedeten sich von der Dame und bahnten sich einen Weg aus dem Abteil. Der Bahnhof war noch voller als der in Hastinapore, und Kalu hielt sich an Vaid Dadas Hemd fest, um nicht von der Flut der Ein- und Aussteigenden fortgerissen zu werden.
*
Im Hotelzimmer lag Kalu noch lange wach. Die Matratze war ungewohnt, und das laute Atmen des Vaid füllte die Stille zwi
schen dem gedämpften Hupen und Klingeln draußen auf der Straße. Anscheinend schlief in dieser Stadt niemand, abgesehen von Vaid Dada.
Kalu kniff die Augen zu, um die Matratze daran zu hindern, zu schaukeln wie der Zug. Er wälzte sich herum und versuchte, in einen tröstlichen Schlaf zu fallen. Dabei hielt er seine Plastikflöte umklammert, als ob die Berührung ihn zurück nach Hastinapore und an die frische Luft bringen würde. Es war das erste Mal, dass Kalu in einem geschlossenen, ihm fremden Raum übernachtete. Doch er war freiwillig hier. Niemand hatte ihn gezwungen. Und morgen würde er den Bruder des Vaid kennenlernen.
In der Dunkelheit des Raumes betrachtete Kalu seine Taschen. Er hatte in seinem ganzen Leben nicht so viel Kleidung besessen. Das Wichtigste jedoch waren ihm noch immer seine Flöte und seine Freunde.
Kalu begann, im Kopf eine Melodie zu erfinden. Der Atem des Vaid gab den Rhythmus vor, und die Geräusche von der Straße dienten als Begleitung. Er ließ die letzten Tage noch einmal Revue passieren, um jeden seiner Freunde mit einer eigenen Tonlage auszustatten: Ganga Ba, laut und ein bisschen schrill. Bal düster und Malti bald lebhaft, bald traurig. Dann verflocht er die einzelnen Stränge zu einem dichten Gespinst. Verband kleines Glück und große Ungewissheit zu einer harmonischen Melodie, bis er schließlich über seiner Komposition einschlief.
*
Den letzten Teil ihrer Reise legten Kalu und der Vaid im Jeep zurück. Als die Morgensonne die Luft erwärmte, hielten sie zum Frühstück an. Schweigend tranken der Mann und der Junge ihren Chai aus einfachen Gläsern mit abgestoßenen Rändern. Sie standen am Straßenrand, wo die Bäume den meisten Schatten boten. Die Menschen wirkten fremdländisch auf Kalu. Ob
die Bergluft höhere Wangenknochen und schmalere Augen hervorbrachte?
Der Vaid, der es gewöhnt war, dass Kalu vor sich hin summte oder sprach, legte ihm den Arm um die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Kalu. Es wird dir bei meinem Bruder gefallen, Beta, auch wenn es dir am Anfang dort oben vielleicht etwas zu ruhig ist. Ihr werdet nur zu dritt sein. Mein Bruder lebt allein, außer ihm ist nur noch Ashwin da. Er kümmert sich um den Haushalt.«
Der Vaid erhob sein Glas, kippte es und goss sich den Tee in den Mund, ohne seinen Rand zu berühren. Kalu tat es ihm nach, wenn auch nicht so geschickt. Vaid Dada reichte ihm ein großes, weißes Taschentuch. Es dauerte einen Moment, bis Kalu begriff, wozu.
»Ashwin? Ist er auch ein Schüler?« Kalu knetete das feuchte Stück Baumwollstoff in den Händen.
»Nein, mein Junge. Ashwin ist schon ungefähr zwanzig Jahre bei uns. Damals war er noch ein Junge, kaum älter als du. Als mein Bruder sich entschied, nicht mehr aufzutreten und sich in die Berge zurückzuziehen, beschloss Ashwin, ihn zu begleiten. Er führt uns den Haushalt.«
Der Vaid hielt inne, ehe er lächelnd fortfuhr. »Ich würde gern das Gesicht meines Bruders sehen, wenn man ihn bäte, Ashwin zu unterrichten!« Er lachte und zauste Kalus Haar, bevor er die Gläser an den Chai-Stand zurückbrachte.
Am ersten Tag ihrer Reise hatte Kalu immerfort aus dem Zugfenster gestarrt, um möglichst viel von den Dörfern, Bäumen und Plantagen zu sehen, die sie passierten. Heute hingegen dachte er nur an das, was ihn am Ende der Reise erwarten würde. Er verspürte einen Druck im Magen, als hätte er zu viel gegessen – oder zu wenig.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als der Jeep über die unebene, gewundene Straße fuhr, die ins Nichts zu führen schien, und dabei riesige Staubwolken aufwirbelte, die sich erst legten,
als der Wagen langsamer wurde. Sie hielten an einem einsamen Haus am Hang, das im Angesicht der riesigen, hinter ihm aufragenden Berge winzig wirkte. Es musste das Haus des Musikers sein.
*
Eine hohe, gekalkte Mauer verwehrte den Blick auf das
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