Der Klang der Sehnsucht - Roman
Brie
fes zu wiederholen, kehrte Malti summend an ihre Arbeit zurück.
*
»Jetzt sing mir nach – Sa. «
Kalu öffnete den Mund und stieß das lauteste und längste Sa hervor, das er konnte. Dabei wiegte er sich leicht auf der Strohmatte, um besser Luft holen zu können. Der Guru saß da und wartete, bis Kalu wieder zu Atem kam.
» Sa «, wiederholte er, indem er den Ton langsam mit leichten Schlägen auf seine gekreuzten Beine auszählte.
» Sa «, sang Kalu, innehaltend, wenn die Hand seines Lehrers innehielt. Sein Hals brannte, als hätte er Diesel getrunken.
» Sa …«, wiederholte der Guru.
»Was hat das mit Flötespielen zu tun? Ich will nicht singen, ich will spielen.«
»Wenn du nicht singen kannst, kannst du auch nicht spielen. So ist das eben in der Musik. Also pass auf, und hör zu. Sa …«
Kalu holte tief Luft. Er merkte sich, wie der Guru ansetzte. Wie sein Brustkorb sich weitete, bevor er den Ton hervorbrachte. Er klang tief und weich. Bei jeder Wiederholung sank seine Brust ein und dehnte sich dann wieder aus, ohne dass Kalu die leiseste Unsicherheit in seiner Stimme wahrnahm.
Kalu wusste, dass er, wenn er die Augen schloss, nicht hätte bestimmen können, wo ein Atemzug endete und der nächste begann. Kalu sang zum dritten Mal das Sa .
Der Guruji schlug sich mit der Hand aufs Knie und hob die Augenbrauen, während Kalu den Ton sachte ausklingen ließ. »Nicht schlecht. Sitz gerade und konzentrier dich. Versuch mal den nächsten Ton. Ré …«
Kalu bemerkte weder den erstaunten Blick seines Guruji noch dessen erhöhte Aufmerksamkeit, als er zum nächsten Ton überging.
*
Kalu mochte es nicht, wenn Ashwin ihm den Kopf massierte. Die Hitze seiner Hände, der Druck seiner Fingerspitzen und das warme, nach Nelken duftende Öl verstärkten sein Unbehagen zusätzlich.
»Aré, Baba, sitz doch mal still. Du windest dich ja wie ein Wurm, den man in zwei Hälften gehackt hat. Willst du etwa kein langes, dichtes Haar? Wenn wir deine Kopfhaut nicht wenigstens einmal pro Woche massieren, hast du, eh du dich versiehst, eine Glatze.«
So rückte Ashwin Kalu oft zurecht, wenn er versuchte, sich sacht zu entziehen, bis die öligen Abdrücke seiner Hände das ganze Tuch bedeckten, das über Kalus Schultern gebreitet war. »Und atme anständig, Baba. Tu nicht so, als würde ich dich foltern. Du solltest dich geehrt fühlen, dass ich deinen kleinen Kopf überhaupt anfasse.«
Kalu atmete aus und fiel dabei leicht in sich zusammen, was Ashwin erneut veranlasste, ihn bei den Schultern zu packen und aufzurichten. Nie zuvor war jemand so mit Kalu umgegangen. Niemand hatte mit seinem Haar gespielt, ihn in die Rippen geboxt, ihn gekitzelt und umarmt, wie Ashwin es tat. Dabei bestäubte er ihn ständig mit Mehl und umgab ihn mit seinem besonderen Duft – einer Mischung aus Gelbwurz und Brut 33, dem Rasierwasser aus Amerika. Kalu hatte keine Erfahrung mit dieser Art von Zuwendung und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Also ließ er alles stocksteif über sich ergehen, bis Ashwin sich ausgetobt hatte.
Kalu beschloss zu erforschen, ob andere Menschen sich ebenso verhielten oder ob Ashwin bloß ein bisschen verrückt war. Er begann damit, sich die Bilder in Büchern anzuschauen, und stieg sogar auf einen Stuhl, um auch die oberen Regalfächer zu erreichen. Nachdem er sich alle möglichen Fotografien angesehen hatte, stellte er sie sorgfältig wieder zurück. Bücher waren in dieser Hinsicht offenbar keine große Hilfe.
Also schaute er sich mit Ashwin Filme im Fernsehen an und
dachte an Ganga Bas Serien. Aber selbst im Fernsehen kam es höchst selten vor, dass Leute sich umarmten. Es gab höchstens ein paar Szenen, in denen der Schurke die Heldin packte, sie ihm ins Gesicht schlug und dabei ›du Schuft!‹ schrie.
Eines Nachmittags, als Ashwin und der Guru sich ausruhten, machte er sich auf den langen Weg hinunter ins Dorf. Kalu wusste, dass es eine Abkürzung durch die Sträucher und die hohen Pipalbäume gab, beschloss aber dennoch, die Straße zu nehmen. Das war sicherer, und wenn er sich an der Seite hielt, konnte er sich notfalls verstecken.
Der Ort am Fuß des Berges war so klein, dass er nicht einmal einen Namen hatte und nur als das ›Dorf hinter Manikot, an der Straße nach Tanakpur‹ bekannt war. Am Rand des Dorfes stand ein großer Mangobaum. Kalu kletterte hinauf, um zwischen den Ästen versteckt von oben die Straße zu beobachten. Der Platz war ideal. Er saß hoch genug, um
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