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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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bis seine Beine ganz gestreckt waren. Dann ließ er los und plumpste mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden. Es war wichtig, gewisse Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz seiner Beine zu ergreifen.
    *
    Kalu lag in seinem Zimmer und hörte zu, wie die Sarod gestimmt wurde. Er drehte sich um und lächelte. Gleich würde der Guruji spielen.
    Das Spiel des Meisters durchbrach die Stille. Es war die ruhigste Zeit, die Stunde, bevor der Mond unter- und die Sonne aufging. Obwohl Kalu schon fast drei Monate im Haus lebte, war dies das erste Mal, dass er den Guruji um diese Zeit spielen hörte.
    Am Tag spielte der Guruji gemäßigt, ruhig und kontrolliert, aber jetzt war sein Spiel wild und ungebändigt. Ein Schrei aus bitterem Herzen, ein Flehen in der Luft, das keine Erwiderung fand. Kalu schmeckte die Bitterkeit der Reue in den Klängen, die ihn einhüllten. In eine Geschichte eingeschlossen, die nicht die seine war. Diese Musik kündete von Zorn und Schmerz.
    Kalu setzte sich auf, lauschte mit geschlossenen Augen, versank völlig in der Musik. Er konzentrierte sich auf die Töne. Ganz gleich, warum der Guruji auf diese Weise spielte, Kalu wusste, dass nur ein virtuoser Künstler solche Töne hervorzubringen vermochte. Wie eine Welle erhob sich die Musik, um sich krachend zu überschlagen und dann langsam in ein weicheres Fließen überzugehen. Es war, als lindere der Guruji mit diesem Spiel einen Schmerz, verkehre ihn in eine Art von Melancholie.
    Kalu saß aufrecht, bis der Guruji zu spielen aufhörte. So wollte er auch spielen. Er legte sich hin und schlief wieder ein, während die Sarod in seinen Träumen Widerhall fand.
    Am nächsten Morgen saß er beim Frühstück und erwartete, dass der Guruji oder Ashwin das nächtliche Konzert erwähnten, aber keiner sagte etwas.
    Der Guruji schien vergessen zu haben, dass Kalu überhaupt im Haus war.
    Ashwin schickte den Jungen mit einem Picknick ins Freie. »Geh, und vergnüg dich ein bisschen. Heute machst du mal Pause.«
    »Warum hat er heute Nacht gespielt? Was war das für eine Musik? Darf ich ihn fragen?«, erkundigte sich Kalu.
    »Das war keine Musik, Baba, das waren nur Erinnerungen. Keine, über die wir sprechen müssen.«
    »Aber –«
    »Kein Aber, Babu. Du machst heute mal einen Ausflug. Es ist besser so.«
    Kalu verließ das Haus und den Garten. Zuerst machte er sich auf den Weg ins Dorf, änderte aber dann die Richtung und stieg die felsigen Pfade hinauf auf den Berg, wo er das von der gekalkten Mauer umgebene Haus im Blick hatte und sich vergewissern konnte, dass alles beim Alten blieb.
    *
    Sie betrachtete den Jungen, der zusammengerollt wie eine Katze auf der Matte schlief. Sein Körper war von Narben und zahllosen Kratzern bedeckt. Immer wieder ballte sie die Fäuste, während sie um ihn herum den Boden aufwischte.
    Er weigerte sich noch immer, auf die Toilette zu gehen. Als sie ihn gefunden hatten, hatte sie das nicht gestört. Doch nun waren mehrere Wochen vergangen, und sie fragte sich, ob er sich von einem halben Wolf wieder in ihr Kind zurückverwandeln würde.
    Als sie ihn fanden, hatte sie Gott auf Knien gedankt. Jetzt war sie sich gar nicht mehr so sicher.
    Sie erinnerte sich an den dreijährigen Jungen, der er einmal gewesen war. Sie hatten ihm noch keinen Namen gegeben. Kein Name, bis er fünf Jahre alt ist, hatte ihre Mutter gesagt, nur für alle Fälle. Mit fünf wäre er dann alt genug für einen Namen, und es wäre sicher, ihn ihr eigen zu nennen. Er war ihr erstes Kind. Das Kind ihres Herzens. Das ihr eine glückliche Ehe verhieß.
    Jede Nacht sang sie ihm vor:
     
    Nana mara hath te tali pade sath, eto kevi ajab jevi vat chhe
    Meine kleinen Hände, sieh, wie sie klatschen, ist das nicht wundervoll?
     
    Es hatte ihr nichts ausgemacht, dass es so viel schwerer schien, ein zweites Kind zu bekommen. Dass sie ständig Fehlgeburten erlitt, ihr Körper die künftigen Kinder abstieß. Auch ihren Mann hatte das nicht gestört. »Wir wollen uns an diesem Kind freuen«, sagte er und war glücklich über seine kleine Familie. Sie erinnerte sich, wie ihr Sohn gelacht und in die Händchen geklatscht hatte, wenn sie sang.
     
    Nanu mara nak, te sunghe ful majanu, eto kevi ajab jevi vat chhe
    Meine kleine Nase liebt den Duft der Blumen, ist das nicht wundervoll?
     
    Dann hatte er laufen gelernt. Rennen, berichtigte sie sich. Ihr Junge lernte nie laufen, nur rennen. Sie versuchte, ihn in ihrer Nähe zu halten. Aber als die Tage zu Monaten wurden und sie mehr Arbeit

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