Der Klang der Sehnsucht - Roman
Beine taten ihm weh. Er konnte seine Knie kaum durchdrücken und humpelte fast so sehr wie Ashwin.
In der Küche roch es nach heißen Chapati und Gelbwurz. Der Geruch war der gleiche wie in Brahmanjis Küche, aber ansonsten sah es hier ganz anders aus. Nicht eine Chili oder eine Bohne lag am falschen Platz. Nirgendwo türmte sich ein Berg Spinat, um gewaschen zu werden, und kein Gefäß mit reifendem Joghurt stand auf dem Tisch. Alles war an Ort und Stelle. Diese vollkommene Ordnung sowie die Bilder an der Wand kennzeichneten die Küche als Ashwins Reich.
Drei Filmstars lächelten mit feuchten Augen und glänzenden Lippen von ihrem Platz an der Wand über dem Radio auf Kalu hinunter. Ashwin hatte stets einen Sender mit Filmmusiken eingestellt. Die Bilder der Stars änderten sich, sooft er einen neuen Film im Kino gesehen hatte.
Kalu ließ sich wimmernd auf einem kleinen, roten Hocker nieder, den er sich rasch zu seinem erkoren hatte, während Ashwin mit einer silbernen Schöpfkelle in der Hand zwischen dem westlichen Kochherd und dem hellblauen Kühlschrank hin- und herwirtschaftete. Der Kühlschrank enthielt neben Leckereien wie Käse mehr gekühltes Wasser, als Kalu je zuvor gesehen hatte. Und außerdem sein Lieblingsgetränk – eiskalte Milch.
Als er die Beine ausstreckte, um etwas von der kühlen Brise aus dem Eisschrank einzufangen, fiel sein Blick auf Krishna, der als pummliges Kleinkind mit blauen Pausbacken, strahlenden Kulleraugen und rosigen Lippen von einem Kalenderblatt auf ihn herunterlächelte. Der goldene Schmuck auf seinem Kopf und an seinen Armen hob sich leuchtend von seiner blauen Haut ab. Neben diesem Bild von Krishna schritt Hanuman, der Affengott, stolz und erhaben über ein Kalenderblatt vom vergangenen Jahr. In der einen Hand trug er eine Keule und auf der anderen einen Berg. Von seiner erhobenen Schwanzspitze züngelten Flammen.
Kalu wäre lieber Hanuman als Krishna gewesen. Wer wollte schon blaue Haut haben und ständig von Mädchen umgeben sein, statt von Haus zu Haus springen und fliegen zu können?
Doch falls der gegenwärtige Zustand seiner Beine anhielt, würde er wahrscheinlich nie wieder rennen können, von springen ganz zu schweigen. Er kam sich vor wie Ashwin mit seinem Seemannsgang. Dieser hatte immerhin Hanumans Größe, wenn vielleicht auch nicht dessen übermenschliche Kräfte und den magischen Schwanz. Kalu bewegte sein schmerzendes Hinterteil vorsichtig auf dem Hocker, um eine bequemere Position zu finden. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, wovon Ashwins Beine so krumm geworden waren.
»Du, Ashwin? Waren deine Beine eigentlich in Ordnung, bevor du beim Guruji gelebt hast …?«
»Nein, Kleiner, überhaupt nicht. Ich bin so geboren. Solche Beine bekommt man nicht von ein paar Sitzübungen. Keine Angst, du wirst gleich wieder gerade gehen.«
»Ja, aber wenn ich einmal gerade bin, kann ich mich nicht mehr so verbiegen, und der Guruji guckt mich grimmig an. Wenn ich nur an seine buschigen Augenbrauen denke …«
»Aré, Baba, mach dir doch nicht immer solche Sorgen.« Ashwin reichte Kalu ein Glas gezuckerte Milch. »Es braucht nur ein wenig Zeit, das ist alles. Er muss die Straße aus dir herausbügeln.
Genau wie dein Geist muss sich auch dein Körper anpassen. Komm her, setz dich erst mal auf das Handtuch hier, dann wird es dir gleich besser gehen. Und in ein paar Monaten wirst du den Boden gar nicht mehr spüren, weil du ganz mit der Musik und all den Büchern beschäftigt sein wirst. Alle möglichen Ideen werden aus deinem Kopf sprießen, zuerst auf Gujarati, dann auf Hindi oder Englisch.«
Im Radio wurde ein beliebter Oldie angesagt, und Ashwin zog seine Augenwinkel nach außen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn du in ein paar Jahren Japanisch lernst!«
» Mera juta hai Japani «, sang er den Schlager im Radio mit.
» Yeh patlun Inglistani «, ergänzte Kalu, während er auf seine Hose deutete und sich auf dem Hocker drehte und Ashwin durch die Küche tänzelte. Beide sangen aus voller Kehle.
Meine Schuhe sind japanisch
Meine Hose ist britaanisch
Mein roter Hut ist russiaanisch
Doch mein Herz ist hindustaanisch
Zumindest für den Augenblick waren alle Nöte vergessen.
An diesem Abend breitete Kalu die Baumwollmatte von seinem Bett in der Zimmertür aus. Dann stellte er einen Hocker auf die Matte, stieg darauf, hielt sich am oberen Türrahmen fest und stieß den Hocker beiseite. Er spürte, wie das Gewicht seines Körpers ihn nach unten zog,
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