Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
lediglich darin bestand, sich über sein Glück zu freuen.
    An seine wirklichen Geschwister konnte Bal sich nicht erinnern. Sie waren fünf Kinder gewesen, zwei Jungen und drei Mädchen. Nach dem Tod seiner Mutter hatte sein Vater vergeblich darum gekämpft, die Familie zusammenzuhalten. Er hatte Schulden gemacht, um Medikamente für Bals Mutter zu kaufen und die Beerdigung zu bezahlen. Sein Vater hatte gesagt, er wolle ihn nicht verkaufen, aber als ältestes und kräftigstes Kind würde er das meiste einbringen. Es sei seine Pflicht, die Familie zu unterstützen. Bal hoffte, dass sein Bruder und seine Schwestern nicht zu einem solchen Leben gezwungen worden waren. Er hatte keine Möglichkeit, es zu erfahren. Obwohl er wusste, wie sein Dorf hieß, konnte er ja weder lesen noch schreiben. Seit sein Herr ihn gekauft hatte, war jede Verbindung zu seiner Familie abgebrochen. Er hatte nur noch Kalu.
    Auf der Welt gab es viele Menschen wie Bal, aber nur einen Kalu. Musik und Gelächter folgten Kalu wie der Duft von Räucherstäbchen einem Priester.
    Bal betrachtete sein kleines Bild von Hanuman, dem Affengott. Er hatte es am Straßenrand gefunden. Es war so groß wie seine Handfläche, zerknittert und ausgeblichen, aber Bal wusste, dass es ein Geschenk für ihn war. Ein besonderes Geschenk
vom Affengott selbst, damit Bal beten konnte, ohne zum Tempel zu gehen. Er hatte kein Geld, um zu opfern, wie es sich gehörte.
    Bal liebte den Affengott. Hanuman war stark. Er tat, was immer von ihm verlangt wurde, um Rama und seinem Bruder Lakshman zu dienen. Hanuman war eine gute Gottheit für einen Sklaven wie ihn. Bal rieb mit dem Daumen über den unteren Rand des Bildes. »Bitte, Hanuman, bewahre Kalu vor Schaden. Schütze ihn, gib ihm einen guten Platz zum Schlafen und genug zu essen. Mach, dass er Freunde findet und glücklich wird.« Das Bild in der Hand und in Gedanken bei Kalus Flöte, fiel Bal in tiefen Schlaf.
    *
    Kalu hielt einen Stift umklammert, beugte sich über ein Blatt Papier und schrieb.
    Liebe Ganga Ba, liebe Malti.
    Hin und wieder drehte er sich um, um die Buchstaben mit jenen des Alphabets auf dem Plakat zu vergleichen, das Ashwin auf dem Basar entdeckt und im Bücherzimmer aufgehängt hatte.
    »Aré, sitz gerade, Kalu.« Ashwin gesellte sich jetzt abends gern zu Kalu und dem Guruji. Auch heute saß er im Schneidersitz auf einem Stuhl und stopfte Socken. Neben ihm warteten ein Berg Wäsche und ein schweres Bügeleisen.
    »Stör ihn nicht dauernd, Ashwin, lass es ihn auf seine Weise machen«, sagte der Guruji, ohne den Blick von seinem Buch zu heben. Es war still im Zimmer, abgesehen vom leisen Rascheln des Papiers, wenn Kalu seine Hand bewegte, und dem Chor der Frösche und Grillen, die sich im abendlichen Garten tummelten. Es herrschte einträchtiges Schweigen.
    Alles war hier ganz anders als bei Ganga Ba. Kalu kaute am Ende seines Bleistifts und überlegte, was er ihr schreiben sollte. Was würde sie interessieren?
    Er fand die ganze Schreiberei ziemlich mühsam. Was auch daran lag, dass sein Verstand wesentlich schneller arbeitete als seine Finger. Sobald er einmal wusste, was er schreiben wollte, kam es darauf an, sich alles zu merken und gleichzeitig die Worte korrekt aneinanderzureihen. Falls er einen Buchstaben vergessen hatte, musste er versuchen, ihn auf dem Plakat zu finden. Außerdem musste er natürlich darauf achten, dass die Sätze einen Sinn ergaben.
    Zumindest konnte er seine Briefe an Ganga Ba auf Gujarati schreiben, das hieß, er musste sich keine Sorgen um die Rechtschreibung machen. Die Wörter wurden so geschrieben, wie man sie aussprach, was die Sache enorm erleichterte. Englisch hingegen war fürchterlich. Aber der Guruji hatte ihm erklärt, wie entscheidend es war, Englisch zu können. »Sogar wenn du Indien nie verlassen solltest, ist es nützlich. Wenn du größer bist, bringe ich dir noch Hindi, Tamil und Sanskrit bei. Alle diese Sprachen sind wichtig für deine Ausbildung als Musiker. Vorläufig belassen wir es mal beim Englisch der Königin.«
    »Was ist mit dem König? Spricht er eine andere Sprache? Warum denn? Wie reden sie denn dann miteinander?« Kalu begriff nicht, was den Guruji so amüsierte. Er überlegte, ob er in seinem Brief etwas davon schreiben sollte, aber wahrscheinlich würde Malti es auch nicht verstehen.
    Der Guruji hatte ihm erklärt, dass die englischen Wörter meist nicht so geschrieben wurden, wie sie klangen. Das machte die Angelegenheit ziemlich schwierig.

Weitere Kostenlose Bücher