Der Klang der Sehnsucht - Roman
nicht gesehen zu werden, konnte aber hören, was die Vorbeigehenden redeten. Der alte Kalu wäre gleich am ersten Tag nach seiner Ankunft ins Dorf gelaufen. Der neue Kalu ließ sich in allen Dingen mehr Zeit und wartete geduldig in seinem Mangobaum verborgen, dass jemand vorbeikam, und summte dabei einen Schlager aus dem letzten Film, den er gesehen hatte.
Seit Kalu nicht mehr für seine Nahrung sorgen musste, hatte er Muße zum Nachdenken und Beobachten. Obwohl das viele Üben und Lernen ihm mitunter Kopfschmerzen bereitete, hatte er doch genügend Zeit für sich. Niemanden schien es zu kümmern, wenn er einfach nur herumsaß und nachdachte. Verspürte man jedoch ständig eine schmerzhafte, nagende Leere im Bauch, war es unmöglich, sich über das Wie und Warum auf der Welt Gedanken zu machen.
Nach einer Weile schlenderten zwei Jungen auf seinen Baum zu. Sie hatten einander die Arme um die Schultern gelegt. Ihr Anblick erinnerte ihn an Bal, und er musste schlucken. Ein Freund in seinem Alter, der ebenso viel oder so wenig wusste
wie er, fehlte ihm. Obwohl Bal und er nie Arm in Arm gegangen waren wie die beiden Jungen unter ihm, hatten sie doch viel zusammen gelacht, gespielt und herumgealbert, während Bals Büffel in großer Gelassenheit grasten oder sich im Fluss abkühlten.
Bal hatte seinen spärlichen Proviant immer mit Kalu geteilt, der je nach Saison ein paar geklaute Bananen oder Chiku beisteuerte. So konnten die beiden ihren Hunger nie ganz stillen, aber wenigstens waren sie zusammen.
Kalu hatte schon seit einer ganzen Weile mit keinem Menschen außer Ashwin und dem Guruji gesprochen. Er rieb seinen Knöchel an der Rinde des Mangobaums und beobachtete, wie die beiden Jungen einander übermütig neckten und Arm in Arm, rotes Hemd an weißem Hemd, unter dem Baum herumrannten.
Später fuhr Kalu mit Ashwin auf dem Roller nach Tanakpur. Er blieb bei dem Fahrzeug stehen und wartete, während Ashwin die Einkäufe erledigte. In dieser Zeit beobachtete Kalu, wie die Mütter ihre Babys eng in ihre Saris gebunden herumtrugen und Mädchen sich gegenseitig Blumen ins Haar steckten und einander die losen Strähnen aus dem Gesicht strichen. Auf einmal kam er sich sehr allein vor.
Diese Bilder sah Kalu nachts vor sich, wenn er zu bedrückt war, um einschlafen zu können. Vielleicht war Ashwin doch nicht verrückt. Es war, als sprächen diese Menschen eine geheime Sprache, die statt durch Worte durch Berührungen vermittelt wurde. Eine Sprache, die er nie gelernt hatte.
Die einzigen Menschen, deren Berührung nie eine Befangenheit bei ihm hervorgerufen hatte, waren Vaid Dada und Malti. Der Vaid, weil Kalu solche Angst um seinen Fuß gehabt hatte, und Malti – nun, weil sie eben Malti war.
*
Ganga Ba nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und massierte ihre Nasenwurzel. In ihrer Jugend hätte sie es nie für möglich gehalten, dass sie im Alter genauso langsam sein würde wie die Großmütter in den weißen Saris, über die sie und ihre Freundinnen immer gelacht hatten. Es erschien ihr schlecht eingerichtet, dass ihr Körper, nun da sie das Geld und die Freiheit besaß, tun und lassen zu können, was sie wollte, so viel weniger unternehmungslustig war als zuvor.
Ganga Ba legte ihr Rechnungsbuch in die Schublade. Früher hatte sie sich immer mit größtem Vergnügen auf die Abrechnungen gestürzt. In ihrer Jugend hatte Ganga Ba alles, was mit Zahlen zu tun hatte, Freude gemacht. V. P., ihr Mann, hatte diese Eigenschaft ihre »Extra-Mitgift« genannt, wenn auch nie in Hörweite seiner Eltern. Als überzeugte Anhänger Gandhis waren ihre Schwiegereltern stolz darauf, dass sie eine Braut ohne Mitgift akzeptiert hatten. V. P.s Lieblingswitz, dass er mit ihr eine Ehefrau und eine Buchhalterin in einem bekommen habe, hätte seine Verwandten wenig amüsiert.
V. P. selbst fand keinen Gefallen am Umgang mit Geld und war mehr als froh gewesen, dass seine Frau die Buchhaltung für ihn erledigte, solange niemand etwas davon erfuhr.
Taschenrechner bezeichnete Ganga Ba als überflüssigen, neumodischen Kram. Warum nicht sein Gehirn benutzen? Das verbrauchte keine Batterien. Doch neuerdings taten ihr oft die Augen weh, und alles dauerte viel länger. Vielleicht sollte man batteriebetriebene Menschen erfinden. He, Bhagwan, vielleicht wurde sie auch noch verrückt im Alter. Und was, wenn sie eines Tages nicht mehr richtig sehen konnte?
Ganga Ba rührte sich einige Minuten lang nicht, dann holte sie tief Luft.
»Malti!«
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