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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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hatte, ließ sie ihn rennen. Über die Felder und durch das Dorf. Sie konnte nicht mit ihm und ihrer Arbeit zugleich Schritt halten. Außerdem wusste sie in ihrem Herzen, dass ihm nichts geschehen würde. Ihrem einzigen Kind. Alle kannten ihn. Und obwohl er keinen Namen hatte, kam er angerannt, ganz gleich, wo er war, sobald sie nur ein paar Worte sang, und griff mit seinen kleinen Händen nach dem Saum ihres Saris.
    Doch eines Tages kam er nicht zurück. Das ganze Dorf suchte nach ihm. Eine Suchmannschaft nach der anderen schickten sie los, aber alle kehrten unverrichteter Dinge zurück. So laut und lange sie auch sang, ihr Sohn kehrte nicht wieder. Das Kind ihres Herzens.
    Und als ihr Mann sich anderen Frauen zuwandte, verstand sie ihn. Denn sie gab sich ebenso sehr die Schuld, wie er es tat, und weil sie spürte, dass ihr Junge ihr Herz mit sich genommen hatte. Den Sohn, den sie insgeheim bei sich Nikhil genannt hatte, obwohl er noch nicht fünf Jahre alt war. Obwohl sie damit das Schicksal herausforderte.
    Als sie ihn ihr drei Jahre später zurückbrachten, nachdem sie ihn bei einem Wolfsrudel gefunden hatten, hatte sie ihn zuerst nicht erkannt. Er rannte noch immer, doch nun auf allen vieren. Er bellte und knurrte und sah sie mit wilden, bösen Augen an.
    Das Einzige, was er zu erkennen schien, war ihre Stimme, wenn sie sang. Das Einzige, das ihn beruhigte.
     
    Nani mari ankh te joti kank kank, eto kevi ajab jevi vat chhe
    Meine kleinen Augen schauen hier und da, ist das nicht wundervoll?
     
    Sie fragte sich, wie seine Wolfsmutter wohl gewesen sein mochte. Ob sie sich um ihn gesorgt, ihn gepflegt hatte? Ob sie ihr Herz an ihn verloren hatte und es nun nie mehr zurückbekommen würde?
    Sie blickte auf das Seil, mit dem er am Bein festgebunden war. Das Einzige, das ihn davon abhielt, zu fliehen. Behutsam, um ihn nicht zu stören, löste sie es, bevor sie den Raum verließ.
    *
    Malti legte den blassblauen Umschlag zuoberst auf Ganga Bas Post auf dem Tisch. Mittlerweile erkannte sie Kalus runde und klare Schrift, auch wenn sie nicht lesen konnte. Sie mochte die wenigen Minuten, in denen sie die Einzige war, die wusste, dass Kalu geschrieben hatte, bevor sein Brief Allgemeingut wurde.
    Seine ersten Briefe waren sehr kurz. Offensichtlich hatte Kalu sie einer anderen Person diktiert, und die Sätze klangen gestelzt. Mit der Zeit jedoch wurden die Briefe länger und klangen mehr nach Kalu.
    Ganga Ba sprach häufig mit ihren Freundinnen über Kalus Schreibkünste. »Erstaunlich, dass ein Kind von der Straße so schnell lernen kann. Schon als ich ihn das erste Mal sah, wusste
ich sofort, dass er etwas Besonderes ist.« Sie machte eine Pause. Malti, die gerade Chai servierte, lächelte still, als Ganga Ba wieder einmal ihre Geschichte zum Besten gab: »Weißt du noch, Malti, wie ich ihm damals die Milch gegeben habe? Sogar seinen Namen habe ich ihm gegeben. Ja, ich hatte schon immer ein Auge für gute Ware.«
    Die anwesenden Damen nickten höflich und wechselten das Thema.
    Malti musste häufig an das Kind denken, das von einem Rudel Wölfe aufgezogen worden war, bis man es im Wald wiedergefunden hatte. Wie das Dschungelkind, das bei den Wölfen aufgewachsen war, hatte auch Kalu das Interesse geweckt, weil er so ungewöhnlich war: Sein verletzter Fuß, das Wunder seiner Heilung und seine Beförderung vom Betteljungen zum Schüler eines berühmten Musikers gaben ihm etwas Bedeutendes. Sie hoffte, Veränderungen fielen ihm leichter als dem Wolfskind oder ihr selbst. Denn Malti mochte es am liebsten, wenn alles so blieb, wie es war.
    Sobald Ganga Ba einen Brief von Kalu bekam, rief sie ihre Dienstboten zusammen. Schließlich interessierten sie sich ebenso brennend für Kalus Fortschritte wie sie selbst. Dann unterbrachen sie die Arbeit und versammelten sich im vorderen Zimmer, standen an der Wand oder saßen auf dem Boden, während Ganga Ba sich einige Male räusperte, um Ruhe bat und vorlas.
    Malti hörte stets angespannt und sehr aufmerksam zu, achtete auf die Zwischentöne und die Melodie der einzelnen Sätze, lauschte, ob womöglich irgendein Misston zwischen den Zeilen andeutete, dass Kalu unglücklich in seinem neuen Zuhause war, sich einsam fühlte oder es bereute, fortgegangen zu sein. Erst wenn sie aus der Schilderung seiner Mahlzeiten oder des nahe gelegenen Dorfes Kraft und Sicherheit herauszuhören glaubte, lockerten sich ihre geballten Fäuste. Und während die anderen Ganga Ba drängten, bestimmte Teile des

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