Der Klang der Sehnsucht - Roman
Ihre Stimme war glücklicherweise noch kräftig. Das war auch nötig, sonst hörten diese Dienstboten ja nicht.
»Ja, Ganga Ba.« Malti kam außer Atem die Treppe hinaufgerannt.
»Da bist du ja! Hör mal zu, Malti, ich habe eine tolle Überraschung für dich.«
»Ja, Ganga Ba.« Malti nahm die Nachricht gelassen auf. Ganga Bas Vorstellung von einer tollen Überraschung deckte sich erfahrungsgemäß nur selten mit ihrer eigenen.
»Malti, dein Bruder und Kalu lernen Lesen und Schreiben. Auch Rechnen und wie man Bücher führt, alles Mögliche eben. Findest du es da nicht ungerecht, dass du diese Dinge nicht auch lernen darfst?«
»Nein«, versetzte Malti. »Es gehört nicht zu meiner Arbeit, solche Sachen zu können.«
»Und warum nicht?« Ganga Ba erwärmte sich für ihr Thema. »Heutzutage sollten Mädchen genauso viel lernen wie Jungen. Weißt du, zu meiner Zeit musste ich noch richtig darum kämpfen, auf der Schule bleiben zu dürfen. Nur weil ich ein Stipendium bekam, hat mein Vater erlaubt, dass ich nach meinem zwölften Lebensjahr noch weiter die Schule besuchte.«
Malti ließ unerwähnt, dass sie nie die Wahl zwischen Arbeit und Schule gehabt hatte. Sie ahnte auch, dass es nichts nützen würde, wenn sie Ganga Ba sagte, dass sie kein Interesse an einer Schulausbildung habe. Maltis Mutter hatte ihr beigebracht, dass die wichtigsten Aufgaben einer Frau darin bestünden, den Haushalt zu führen, Kinder zu bekommen und sich um ihre Schwiegereltern und ihren Mann zu kümmern. Eben für ein harmonisches Heim zu sorgen. Ganga Bas nächste Äußerung katapultierte Malti zurück in die Gegenwart.
»Na ja, besser spät als nie. Morgen beginnen wir mit dem Unterricht.«
»Unterricht? Ich glaube, dafür ist kein Platz in meinem Kopf.«
»Unsinn! Von nun an wirst du Lesen und Schreiben lernen. Erst Wörter, dann Zahlen. Bald werde ich dir meine Briefe diktieren.«
»Aber meine Arbeit! Wer soll meine Arbeit machen, wenn ich lesen lerne?«, widersprach Malti störrisch.
»Ich habe sowieso mehr Dienstboten, als ich brauche. Das Bisschen, was du machst, können die anderen mit erledigen. Du wirst von nun an jeden Morgen ein oder zwei Stunden lernen und abends nach dem Abendessen üben. He, Bhagwan, warum habe ich nicht früher daran gedacht?«
*
Bal lag in der Strohhütte neben der Einfriedung für die Büffel. Durch das Geflecht konnte er die Sterne sehen. Die Hütte war an beiden Seiten offen und erlaubte jeder auch noch so kleinen Brise den Durchzug. Er schlief auf einer alten Matte von einem der Dienstboten. Seine Kleider lagen in einem kleinen Bündel neben ihm.
Selbst die Büffel hatten mehr Platz und Komfort, aber sie waren ja auch, wie sein Herr einmal gesagt hatte, viel mehr wert als er. Wenn es regnete, zog Bal häufig in ihren Stall, aber in einer Nacht wie dieser war es dazu viel zu warm.
Er wusste, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Sein Herr war streng, aber gerecht. Zumindest bekam er jeden Tag etwas zu essen und hatte einen Platz zum Schlafen. Das war mehr, als andere besaßen. Als Kalu noch auf der Straße gelebt hatte, hatte er weniger gehabt.
Bal wimmerte bei dem Gedanken an die Prügel, die er bezogen hatte, als er Kalu auf den Hof geschmuggelt hatte, um seinen Schlafplatz mit ihm zu teilen. Sie hatten es nie wieder versucht.
Zumindest hatte Kalu jetzt eine richtige Unterkunft. Die meisten Leute hielten ihn wegen seiner Musik für etwas Besonderes. Bal wusste aber, dass es viel tiefer ging. Kalu blickte unter die Oberfläche. Er folgte seinem Herzen, ganz gleich, was andere dachten.
Kalu war der Einzige in ganz Hastinapore, mit dem Bal lachen konnte. Er lächelte, als ihm einfiel, wie Kalu ihm von dem Tempelaffen erzählt hatte, der der Frau des Panwalla die Bananen
geklaut hatte. Kalu hatte die Geschichte nicht einfach erzählt, er hatte sie ihm vorgeführt, war gesprungen wie der Affe, hatte geschrien wie die erboste Frau und den Panwalla imitiert, wie er versuchte, dem Affen die Bananen wieder abzujagen, indem er seine Sandale nach ihm warf, nur um zu sehen, wie der Affe sich auch dieser bemächtigte. Kalu spielte den Panwalla, der genauso viel Angst vor dem Affen hatte wie sein Frau, bis selbst die Büffel vor Vergnügen brüllten.
Bal hatte gelacht, bis ihm der Bauch weht tat.
Bal hatte Kalu zugeredet, Hastinapore zu verlassen. Hier konnte nichts aus ihm werden, und Kalu war ihm wie ein Bruder. Er wollte ihm helfen, so gut er konnte. Selbst wenn seine Hilfe
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