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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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wurde ihm klar, dass Bleiben für ihn inzwischen so wichtig war wie Atmen.
    *
    Voll freudiger Erwartung öffnete Ganga Ba den eben eingetroffenen Brief von ihrer Tochter. Sie hatte ihre alte Mutter also nicht vergessen. Um besser lesen zu können, kniff sie die Augen zusammen. Sie hatte sich so an diese Art zu lesen gewöhnt, dass sie sich gar nicht fragte, ob die Schrift kleiner oder ihre Augen schlechter geworden waren.
    Ihre Tochter schrieb stets Aerogramme. Blaues Papier, mit sechs Feldern, drei innen und drei außen. Adressiert war der Brief mit schwarzer Schrift an Mrs. Ganga Ben V. Patel. Sie las die Adresse zweimal, denn die Briefe waren die einzige Erinnerung, dass sie einmal eine Mrs. gewesen war. V. P.s Tod, der sie von einer Ehefrau in eine Witwe verwandelt hatte, schien sich in einem anderen Leben ereignet zu haben. Auf der Rückseite stand Jyotis Adresse: 41 Rutherglen Rd., New Jersey.
    Zwei Segmente des Aerogramms hatte Jyoti mit Neuigkeiten aus Amerika gefüllt. Was sie neuerdings gekauft hatte, ihre indisch-amerikanischen Freunde, eingefrorene Chapati aus dem Supermarkt und, natürlich, wie gut die Enkelkinder in der Schule waren. Die übrigen beiden Abschnitte waren Ganga Bas Enkel vorbehalten.
    Beide schrieben groß und mit farbiger Tinte, Rohan in Lila und Pinky in Grün. Jyoti hatte das Papier mit Bleistift liniert. Sie hatten auf Englisch geschrieben, und Jyoti hatte es ins Gujarati übersetzt.
    Obwohl sie es nie zugegeben hätte, schämte Ganga Ba sich insgeheim und war ziemlich enttäuscht, dass ihre Enkel die Sprache ihrer Großmutter nicht beherrschten. Schließlich war es ja
auch ihre Sprache. Bei Besuchen und am Telefon war die Unterhaltung auf »wie geht es dir, Nani?« seitens der Kinder und »sehr gut« seitens der Großmutter beschränkt. Sie konnten zwar ein paar Worte, jedoch gerade genug, um Brahmanji dazu zu bringen, ihre Lieblingsgerichte zu kochen.
    Jyoti und ihr Mann Sanjay verschlossen die Augen vor diesem Problem. Jyoti in ihrem eigens für die Reise gekauften Salvar-Kamiz und Sanjay in seinen amerikanischen Hosen platzten fast vor Stolz, wenn die Kinder in der Mitte des Zimmers standen und »für Nani rezitierten«.
    »Schau nur, Mutter, sie können die Arti auswendig hersagen. Kommt, Kinder …«, und Rohan und Pinky sagten das uralte Gebet auf. Richtig, aber ihr Akzent klang so fremdartig, dass sie ebenso gut eine andere Sprache hätten sprechen können. Arti, also wirklich! Als wäre Ganga Ba eine altmodische Hinterwäldlerin, die nur ans Beten dachte und sonst nichts. Vielleicht taten das alte Inderinnen in Amerika, hier jedenfalls war das nicht der Fall.
    Daran und an den fremdländisch wirkenden Briefen mit den Bleistiftlinien erkannte Ganga Ba, dass die Distanz zwischen ihrer Welt und der ihrer Enkel nicht nur räumlicher Natur war. Diese Erkenntnis hielt sie davon ab, sich auf die Reise zu ihrer Tochter zu begeben, die jeden Brief so schrieb, als würde Ganga Ba in Kürze zu einem ausgedehnten Besuch eintreffen. Dies schloss auch die Erwartung ein, dass Ganga Ba irgendwann ganz zu ihren Kindern übersiedeln würde. Ganz so wie sich das für eine treusorgende Tochter gehört – egal ob dies auch den Bedürfnissen ihrer Mutter entsprach oder nicht. Ganga Ba wusste, dass sie etwas zu streng mit Jyoti war, aber was sollte sie in Amerika, in diesem New Jersey, wo alle den ganzen Tag arbeiteten?
    In Hastinapore konnte sie essen, was sie wollte, sich kleiden, wie sie wollte, und überhaupt den ganzen Tag tun und lassen, was und wie es ihr beliebte. Außerdem wusste sie sehr wohl,
dass ein Leben in Amerika ihr sehr viele Zugeständnisse abnötigen würde, mehr noch als ein Leben mit den Schwiegereltern. Selbst in einer indischen Familie müsste sie nach amerikanischen Regeln leben, nach denen man alte Menschen in Heime abschob und nur zum Vorzeigen hervorholte.
    Ganga Ba hatte in jüngeren Jahren die Welt bereist. Als sie frisch verheiratet waren, hatte V. P. sie auf eine Reise nach Europa mitgenommen. Sie hatten in der Schweiz zum ersten Mal Schnee gesehen und mitten in Paris ein vegetarisches Restaurant besucht.
    V. P. sprach fließend Englisch und etwas Französisch. Ganga Ba hatte ihren Mann von Anfang an V. P. genannt, wie alle anderen auch. Er hatte ihr Englisch beigebracht. Sie verstand meist, was gemeint war, wenn auch nicht die feineren Nuancen, aber richtig zu Hause fühlte sie sich nur in ihrer eigenen Sprache, dem Gujarati.
    Ganga Ba war darauf

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