Der Klang der Sehnsucht - Roman
Deshalb machten die beiden sich einen Spaß daraus, Wörter zu finden, die den Gesetzmäßigkeiten widersprachen. Kalu musste solche finden, die eine bestimmte Aussprache hätten haben müssen, sie aber nicht hatten. Sein Lieblingspaar war p-u-t und c-u-t .
Ashwin schüttelte missbilligend den Kopf. »Aré, diese Engländer leben noch immer im Mittelalter. Gujarati ist wie Basmati-Reis, und Englisch ist wie Khichdi, Restereis. Sie haben noch nicht einmal gelernt, wie die Buchstaben richtig klingen müs
sen. Nach all den Jahren, die sie in Indien verbracht haben, hätten sie das wenigstens lernen können, statt uns herumzukommandieren und unsere Diamanten zu klauen.«
Kalu schrieb mindestens einmal im Monat nach Hastinapore. Seine ersten Briefe hatte er entweder Ashwin oder dem Guru diktiert und sie dann abgeschrieben, während er die Worte laut mitlas. Je besser er das Alphabet und die Regeln beherrschte, desto länger wurden seine Briefe.
Diesmal hatte er sich vorgenommen, das Haus zu beschreiben und dabei besonders auf Ashwins Küche und den Herd einzugehen. Das würde Brahmanji interessieren. Er begann mit seinem Zimmer, ging zur Bibliothek über, dann kamen der Empfangsraum, den sie kaum benutzten, und das Gästezimmer an die Reihe. Der Guruji hatte ihm gesagt, seine Freunde seien ihm stets willkommen, was Kalu in jedem Brief besonders betonte.
Seinen Unterricht und seine wachsende heimliche Furcht, dass er nicht länger als das eine Jahr und den Monat, die ihm der Guru versprochen hatte, durchhalten würde, erwähnte Kalu mit keinem Wort. Als er der Abmachung zugestimmt hatte, war ihm nicht klar gewesen, wie viel es zu lernen gab und dass alles so schrecklich schwer sein würde. Atemübungen, Gesang, Yoga und Musik hören waren nur ein Teil seiner Aufgaben. Dazu musste er noch Lesen und Schreiben üben. Dann war da noch die Zeit, die er brauchte, um im Dorf oder in den Bergen umherzustreifen. All das nahm ihn bereits völlig in Anspruch, dabei hatten sie noch nicht einmal mit dem Flötenunterricht angefangen. Nicht richtig jedenfalls.
Der Guruji hatte ihm eine kleine Bambusflöte gegeben und ihm erlaubt, außerhalb des Unterrichts darauf zu spielen, was er wolle. Während der Übungsstunden konzentrierten sie sich darauf, »deine Kraft und deine geistige Ausdauer zu fördern«, wie der Guruji sich ausdrückte. »Wie soll ich wissen, aus welchem Holz du geschnitzt bist, wenn du nicht einmal lange ge
nug den Atem anhalten kannst, um einen anständigen Ton hervorzubringen.«
Kalu senkte den Kopf und fing von vorne an. Sein Versprechen, alles zu tun, was man ihm sagte, lastete schwer auf seinen Schultern. Je länger er im Haus des Guru lebte, desto mehr drängte es ihn, seinem Lehrer zu beweisen, dass er gut genug war, um zu bleiben.
Kalu blickte auf seinen fertigen Brief. Zwei Seiten in ordentlicher Schrift auf weißem Papier mit zarten, blauen Linien. Er malte sich aus, wie Ganga Ba ihn vorlas oder vielleicht sogar Malti, die ja jetzt auch lesen lernte, wie Ganga Ba ihm geschrieben hatte.
Er unterdrückte einen Seufzer. Mitunter konnte er Hastinapore fast riechen. Den beißenden Dieselgeruch der Lastwagen und den würzigen Rauch von den Maiskolben, die an der Straße geröstet wurden. Er hörte die hohen Stimmen der Frauen auf dem Weg zum Einkaufen oder zum Tempel, die raueren Töne der Lastwagenfahrer beim Chaiwalla und die der Männer vor dem Pan-Bidi-Lädchen.
Häufig spürte er jetzt vor dem Einschlafen ein Kneifen im Bauch. Vermutlich kündigte es ihm an, dass er den Guruji nach Ablauf des Jahres verlassen musste. Nun übte er schon so viel, und dennoch klangen die Töne in seinem Kopf immer weit besser als die, die er wirklich sang oder zu spielen versuchte. Vielleicht waren auch die Schmerzen in seinen Händen vom Halten der Rosenholzflöte und der Anstrengung, mit seinen kleinen Fingern die Löcher abzudecken, auch ein Zeichen dafür, dass er das, was der Guruji suchte, nicht besaß.
In solchen Nächten floh Kalu auf die Veranda und schaute zum Sternenhimmel hinauf, als könne Dhruv-Tara seine Not lindern. Fast sehnte er einen seiner früheren Alpträume herbei. Vielleicht würde er mit seinem Grauen die neuen Ängste in seinem Kopf verdrängen.
Er sprach mit niemandem über seine Befürchtungen. Nicht ein
mal mit Vaid Dada. Er hatte das Gefühl, ihnen zu viel Macht einzuräumen, wenn er sie aussprach. Außerdem lösten sich alle Ängste in Rauch auf, wenn der Guruji für ihn spielte, und es
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