Der Klang der Sehnsucht - Roman
vorbereitet gewesen, dass ihre Tochter Jyoti, sobald sie ins heiratsfähige Alter kam, von zu Hause fortgehen würde. Schließlich war es ihr selbst und allen anderen Frauen auch so ergangen. Dass Jyoti sich einen Bräutigam aus Amerika geangelt hatte, bedeutete einen zusätzlichen Bonus. Sanjay passte sehr gut in die Familie, denn er war Ingenieur wie V. P. Allerdings hatte Ganga Ba nicht mit einer so weitreichenden Trennung nicht nur von ihrer Tochter, sondern auch von ihren Enkelkindern gerechnet. Natürlich kamen sie immer wieder zu Besuch, dennoch spürte Ganga Ba, dass ihre Tochter sich jedes Mal ein Stückchen weiter von ihr entfernte und ihr neues Leben ihr inzwischen mehr bedeutete als die Bande ihrer Kindheit. Aber das war ja auch richtig so. Denn wenn ein Mädchen mehr an ihre Eltern dachte als an ihre Ehe, stand Ärger ins Haus, so sicher, wie erhitzte Butter sich in Ghi verwandelte.
Ganga Ba faltete den Brief wieder zusammen. Sie legte ihn in ihren Schreibtisch am Fenster. Zu den anderen Aerogrammen
von Jyoti, die alle blau und alle ein bisschen zerknittert von dem roten Gummiring waren, der sie zusammenhielt. Sie presste das Bündel Briefe zurück in die Schublade neben die von Kalu.
Ein bisschen seltsam kam es Ganga Ba schon vor, dass sie Kalus Briefe, die sehr lebendig waren, so viel unterhaltsamer fand als die ihrer eigenen Familie.
Als Jyoti von zu Hause fortging, hatte V. P. gesagt, durch die Entfernung würde sie ihnen noch stärker ans Herz wachsen. Aber wie sich herausstellte, ging beim Transfer von einem Kontinent zum anderen doch allerhand verloren.
Kapitel 6
Mit der Zeit gewöhnte sich Kalu an sein neues Leben. Am Anfang fühlte sich alles ungewohnt an, wie ein neues Hemd, das ein bisschen am Kragen kratzt. Doch als die Tage zu Wochen wurden und die Wochen zu Monaten, spürte er manche Unterschiede kaum noch, andere blieben.
In den ersten Monaten schlief Kalu immer draußen auf der Veranda und kroch erst gegen Morgen in sein Bett zurück. Jede Nacht in einem geschlossenen Raum zu schlafen fiel ihm noch schwer, weil er die Sterne nicht sehen konnte und es keine Geräusche gab. Es war zu still, zu leer und das Bett zu weich. Selbst als Kalu in Ganga Bas Hof übernachtet hatte, waren das Gehupe und das Rauschen der Reifen von der Straße zu hören gewesen.
Kalu hatte noch mit anderen Unbequemlichkeiten zu kämpfen. Seine Oberschenkel schmerzten vom langen Sitzen. Seine Augen waren müde davon, statt in den Gesichtern von Menschen in den vielen Büchern zu lesen, die der Guruji ihm gab. Momentan waren sie dabei, ein Buch über Pflanzen durchzuarbeiten. Als Kalu las, dass die Wurzeln eines Baumes ein ganzes Drittel
der Pflanze einnahmen, und dass dieser unsichtbare Teil angeblich alles, was oben war, stützte, war er erstaunt und sogar verärgert. So verärgert, dass er sich aus der Küche eine Gabel holte, nach draußen marschierte und sich daranmachte, den kleinsten der Bäume auszugraben, um zu beweisen, dass das Buch unrecht hatte.
Ashwin war nicht gerade begeistert. »Aré, Baba, du wirst mich und diesen Garten noch umbringen!«
Selbst die Mainas krächzten vorwurfsvoll wie alte Frauen, die ein Kind beim Stibitzen von Buttermilch erwischt hatten. Kalu kam es allerdings so vor, als interessierten sie sich weit mehr für Ashwins Gezeter als für das Schicksal des Baumes.
Hervorgelockt von dem Lärm steckte der Guruji den Kopf aus einem der großen Fenster im Bücherzimmer. Er lachte, und feine Linien breiteten sich auf seinem Gesicht aus. »Lass ihn doch, Ashwin. Es geht nichts über einen kritischen Geist.« Und an Kalu gewandt: »Wenn du etwas erforschen willst, mein Junge, musst du es richtig tun. Hol ein Metermaß aus dem Schrank und bitte Ashwin um eine Schaufel. Die Gabel kannst du zum Schluss benutzen, wenn du die Wurzeln herausziehst, um ihre Länge zu messen. Und du, Ashwin, hol Wasser. Wir müssen den Boden feucht halten, damit wir den Baum am Ende wieder einpflanzen können.«
»Das soll ihm nicht schaden? Meine arme Gabel, mein armer Garten. Diese Musiker! Sie sind doch alle gleich. Pagal! Hört ihr? Pagal seid ihr – verrückt.«
Das Buch hatte recht. Kalu entwirrte und säuberte die Wurzel, bis mehr Erde an seinen Händen war als an den zarten Fasern, die wie Haare im Wind von der Hauptwurzel flatterten. Ihre Länge betrug sechsundachtzig Zentimeter, genau ein Drittel des Baumes.
Nachdem sie den Baum aus- und wieder eingegraben hatten, war der Guruji nicht
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