Der Klang der Sehnsucht - Roman
weniger erdverschmiert als Kalu. »Jetzt weiß ich zumindest, dass es stimmt.« Der Junge grinste.
Auch der Guruji lachte. Es war das erste Mal, dass Kalu dieses tiefe, frohe Lachen hörte. Er sah auf und erkannte in diesem Moment, dass er sich nichts auf der Welt mehr wünschte, als diesem Mann, seinem Lehrer, zu gleichen. Kalu holte tief Luft. Er fand diesen Gedanken nicht gerade erfreulich. Wie sollte ein Waisenjunge wie er jemals wie der Guruji werden?
»Das war mal ein Abenteuer!« Ohne die Veränderung in Kalus Stimmung zu bemerken, klatschte der Guruji in die Hände und verstreute dabei eine Menge Erdmoleküle in die Atmosphäre. »Wer hätte gedacht, dass wir heute eine Ausgrabung, eine Rekonstruktion und den Beweis einer Hypothese erleben würden.«
Kalu merkte sich die Wörter, die der Guruji gebrauchte, um sie später nachschlagen zu können.
»Weißt du, Kalu, man könnte sagen, dass vieles auf dem basiert, was unsichtbar und in der Tiefe verborgen ist.«
»Basiert?«
»Basieren heißt ›sich auf etwas stützen‹.«
»Und worauf stützen Sie sich?«, entfuhr es Kalu. Er warf einen raschen Blick auf seinen Lehrer, um zu sehen, ob dessen Augen ärgerlich aufblitzten.
Aber der Guruji zeigte kein Anzeichen von Ärger. »Auf den Klang zweier vollkommener Töne. Erst einer, dann eine Pause, so lang, dass du das Gefühl hast, nichts anderes würde existieren, dann der zweite. Eine warme, schweißfeuchte Hand. Und …« – sein Blick wurde wieder scharf, als Ashwin, noch immer murrend, mit einem Tablett mit Tee und Keksen hereinkam –, »… und auf deinen Unterricht, du Lausebengel.« Der Guruji starrte Kalu an, als sähe er ihn zum allerersten Mal.
»Genug davon. Komm, wir wollen uns waschen, bevor wir uns an Ashwins köstlichem Tee laben.«
*
Eines verschlafenen Morgens begegneten sich Malti und Bal auf dem Weg zum Fluss. Sie erkannte den Jungen, der immer mit Kalu zusammen gewesen war, obwohl sie nie miteinander gesprochen hatten. Kalu erwähnte Bal auch immer noch in seinen Briefen. Sie las stets die unausgesprochene Bitte darin, Nachrichten über seinen Freund zu erhalten. Doch bis zu diesem Augenblick hatte sie sich immer gesagt, es sei zu kompliziert, Bal zu sehen. Sie lebten in allzu getrennten Welten. Ganga Ba wohnte hoch oben über dem Ufer der Narmada, und Bal am anderen Ende von Hastinapore, wo die Felder begannen. Der einzige Ort, den Malti und Bal beide besuchten, war der Fluss, und selbst dort hielten sie sich zu sehr verschiedenen Zeiten auf.
Malti verlangsamte ihren Schritt, um einige Meter hinter ihm zu bleiben. Der Junge war ungefähr so groß wie sie und wahrscheinlich im gleichen Alter. Seine Kleider waren zerrissen, und er war barfuß. Wenn die anderen Mädchen am Fluss sahen, wie sie mit einem Hütejungen sprach, würden sie sie gnadenlos verspotten. Außerdem würde er sie überhaupt nicht bemerken, wenn sie einfach weiterging.
Bal drehte sich zur Seite, um ein Kalb am Ausbrechen zu hindern. Malti sah sich nach einem Versteck um. Dann rief sie sich zur Ordnung. Wie konnte sie nur so albern sein? Dieser Junge war ein Freund von Kalu.
Sie straffte die Schultern und rief ihm nach. »Bal? Du bist doch Kalus Freund Bal, ja?«
Der Junge blieb stehen. Sie erkannte an seinem gesenkten Kopf und den hängenden Schultern, dass er sich unsicher war, warum sie ihn gerufen hatte.
»Du bist doch Kalus Freund Bal, oder?«, wiederholte sie. »Er fragt in jedem Brief nach dir.«
»Kalu kann schreiben?« Bals Augen weiteten sich, und Malti erkannte, wie sehr er sich nach Neuigkeiten über seinen Freund sehnte.
Zweifellos fehlte Kalu ihm ebenso sehr wie ihr.
»Können die Büffel ein bisschen warten? Ich würde dir gern erzählen, was aus dem Lausebengel geworden ist, seit er weg ist.«
Bal lächelte, und Malti konnte nicht anders, als zurückzulächeln, weil er sich so offensichtlich freute. Sie setzte sich auf einen Felsen am Wegrand. Bal ließ sich in ein paar Metern Entfernung nieder, um zu hören, was Malti von Kalu zu berichten hatte.
»Jetzt musst du mir auch etwas von dir erzählen, Bal. Ich weiß, Kalu interessiert sich sehr dafür.«
Bal senkte den Blick. »Es gibt nichts zu erzählen. Mein Leben hat sich nicht verändert. Schreib ihm, dass ich stolz auf ihn bin.«
Malti sah beiseite und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Das werde ich ihm ausrichten«, versprach sie. »Und ich schicke jemanden zu dir, wenn ein Brief von ihm kommt. Dann kannst du kommen, wenn er
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