Der Klang der Sehnsucht - Roman
fünfzehn Minuten, als gerade der Tag anbrach, hörte es auf zu regnen, und die Morgensonne fiel durch das Buntglas auf Shankars Gesicht und in meine Seele.«
Martin sah den Guruji und Kalu an. »Ich weiß, es klingt absurd, aber so war es. Es gibt natürlich andere Lehrer in anderen Ländern, aber mein eigener Lehrer hat Sie mir empfohlen.«
»Im Sanskrit haben wir den Ausspruch Ranjayati iti Raga «, sagte der Guruji. »›Raga wird genannt, was den Geist mit Farbe erfüllt.‹ Jeder einzelne Raga repräsentiert bestimmte menschliche Stimmungen und Eigenschaften. Der Aufbau des Raga ist natürlich von grundlegender Bedeutung, doch technische Virtuosität allein genügt nicht, um mit einem Raga den Geist des Zuhörers mit Farbe zu erfüllen. Der Musiker muss das Publi
kum auf eine Reise zur Wurzel aller Dinge mitnehmen, um die Essenz der Schöpfung und die Schöpfung selbst zu erreichen. Nur ein Meister, der unserer mündlichen Überlieferung entsprechend ausgebildet ist, kann Ihnen das vermitteln.
Für die Fähigkeit, die Sie offenbar anstreben, braucht man sehr viel Zeit und Geduld. Über die Sie vielleicht nicht verfügen?«
Zutiefst beunruhigt wartete Kalu auf Martins Antwort. Wenn dieser beschloss zu bleiben, würde er gehen müssen, davon war Kalu überzeugt. Für sie beide war hier nicht genug Platz. Inzwischen wäre das viel schwerer zu ertragen als bei seiner ersten Begegnung mit dem Guruji. Damals hatte er keine Ahnung gehabt, was auf dem Spiel stand. Doch inzwischen wollte Kalu nicht nur spielen, er wollte gut spielen. Der inbrünstige Wunsch, den Ansprüchen des Guruji zu genügen, verzehrte ihn. Der Mann mit der honigsüßen Stimme und den magischen Händen vermochte es bereits, so zu spielen.
Martin räusperte sich. Sein Haar war triefend nass, als hätte er im Fluss gebadet. »Ich will kein Meister der indischen Musiktradition werden, noch will ich nur die Töne lernen. Aber Ihre Musik verfolgt mich seit einer ganzen Weile. Ich wünsche mir die Zeit und den Raum, um etwas von Ihrer Musik in meine einzubringen – wenn Sie verstehen, was ich meine. Und das muss ich hier in Indien tun. Wo niemand von mir gehört hat – und niemand mich erreichen kann.«
Der Guruji hob die Brauen. »Auch hier im Hinterwald haben wir Telefone.«
»Ja, aber mein Agent weiß das nicht.« Martin schenkte ihm ein herzliches Lächeln und beugte sich nach vorn. »Ich habe mich etwas kundig gemacht und gelernt, dass das Wort Guru ›Zerstreuer der Dunkelheit‹ bedeutet. Mein Lehrer sagt, es gebe zahlreiche große Musiker, aber wenige große Lehrer. Er ist Ihnen nur einmal begegnet, aber er hat Sie nie vergessen und meint, Sie würden mich verstehen und mich so unterrichten, wie kein anderer es vermag. Deshalb bin ich hier.«
Kalu hielt den Atem an. »Aber er nimmt keine Schüler an – außer mir«, hätte er am liebsten gesagt.
Endlich kam die Antwort des Guruji. »Also gut. Sie können jedes Jahr ein paar Monate kommen, bis Sie Ihren Appetit gestillt haben. Aber …« Der Guruji wurde ernst. Kalus kleinen Schnaufer ließ er unbeachtet, »die Leistung sollte auf Gegenseitigkeit beruhen. Dafür, dass ich Ihnen etwas aus unserer Tradition beibringe, möchte ich, dass Sie Kalu in der Ihren unterrichten. Es wäre mir lieb, wenn er westliche Musik lesen, schreiben und spielen lernt. Nicht um Musiker in westlichem Stil zu werden, sondern – und, Kalu, es ist mir ernst damit – um Ihre Welt zu verstehen, ebenso wie Sie die seine kennenlernen werden.«
Martin schüttelte dem Guruji die Hand. »Abgemacht. Ich habe einige Notenblätter bei mir. Sie sagen mir, wie oft und wann ich Kalu unterrichten soll. Einverstanden, Kalu, alter Junge? Wir werden zusammen üben.«
Der neue Schüler würde ihn also nicht verdrängen. Es waren nur noch wenige Wochen, bis der Guruji ihm sagen würde, ob er bleiben konnte oder nicht. Aus Angst, seine weichen Knie würden ihn verraten, klammerte Kalu sich am Stuhl fest. Zu lernen, wie Martin zu spielen, war durchaus nicht schlecht. Aber anscheinend bedeutete es auch, eine ganz andere, neue Sprache zu lernen. Und er hatte schon so viel gelernt. Alles, was er tun musste, war Schritt halten. Weiter arbeiten, damit er bleiben konnte. Er war jetzt schon müde.
*
Martin zog an seiner Hose, ehe er sich vorsichtig auf der dünnen Schilfmatte niederließ. Kalu saß ihm gegenüber, beobachtete ihn genau. Er musste lächeln, weil Martin ständig herumrutschte, um eine bequemere Haltung zu finden. So
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