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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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des Guruji würdig zu erweisen. In ein paar Tagen ging der letzte Monat seiner Probezeit zu Ende.
    Unbewusst bewegte er die Finger auf einer unsichtbaren Rosenholzflöte. Meistens ließ er sich von der Musik, dem reinen
Glück des Lernens, mitreißen, doch bisweilen musste er sehr hart arbeiten und hatte das Gefühl, gegen einen starken Wind anzukämpfen. Der einzige Weg, vorwärtszukommen, bestand darin, sich mit geschlossenen Augen gegen eine unsichtbare Macht zu stemmen. Er hätte nie gedacht, dass etwas, das er so gerne tat, so schwierig sein könnte.
    »Und was tust du, wenn du nicht übst oder lernst? Warst du schon mal in dem Ort, in den wir jetzt fahren?«
    Kalu sah Martin an. »Ashwin hat mich ein- oder zweimal mitgenommen, als er Vorräte eingekauft hat. Ansonsten gehe ich gern in die Berge oder beobachte die Kinder aus dem Dorf unten an der Straße zum Haus.«
    »Mit deinen Freunden?«
    »Meine Freunde leben in Hastinapore.« Kalu erwähnte nicht, dass die Jungen aus dem Dorf ihn einmal entdeckt und verspottet hatten. Dieser Spott hatte ihn sehr verletzt. In Hastinapore hatten ihn auch nicht alle gemocht, und als sein Fuß geeitert hatte, wollten viele nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aber niemand hatte ihn grundlos verhöhnt, so wie diese Dorfjungen. Er war den Hang hinauf nach Hause gerannt. Danach hatte er den Mangobaum eine ganze Weile gemieden und sich eingeredet, er habe ohnehin keine Zeit für solche Spielereien.
    »Ja, aber nur Arbeit und gar kein Vergnügen … du weißt ja …«
    Ein Schatten huschte über Kalus Gesicht.
    »Schau mal, Kalu, nur weil der Guruji ein Einsiedler ist, musst du das nicht auch sein. Du solltest mal etwas anderes unternehmen als lernen.«
    »Wieso denn? Das habe ich alles längst hinter mir. Ich musste Freunde finden, um zu überleben. Das ist nun nicht mehr nötig. Ich habe genügend Freunde, und sie werden immer bei mir bleiben.«
    »So geht das nicht im Leben. Die Dinge verändern sich.«
    »Aber die Menschen nicht. Sie bleiben gleich.«
    Martin seufzte, aber Kalu hörte es nicht. Der Jeep machte einen Schlenker, um einem Radfahrer auszuweichen, der ein Bündel Eisenstangen transportierte. »Gerade Menschen verändern sich, und selbst wenn sie es nicht tun, wirst du merken, dass du selbst dich veränderst.«
    Aber Kalu hörte nicht mehr zu. Er saß kerzengerade und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. Wie sollte er mitten in dieser Stadt einen Raga finden? Dies war seine letzte Gelegenheit, dem Guruji zu beweisen, was er gelernt hatte. Er hatte die Tage auf einem Kalender – ein Werbegeschenk aus Moti Lals Sari-Salon – abgestrichen, den Ashwin ihm gegeben hatte. 
    Als Kalu ihn fragte, was er in einem Geschäft für Damenbekleidung zu suchen habe, versetzte dieser: »Wo sonst trifft man so viele Frauen?«
    Die rote Markierung, mit der er das Ende seiner Probezeit gekennzeichnet hatte, rückte immer näher.
    Endlich hielt Ashwin an einer belebten Kreuzung. Er wies Kalu und Martin an, sich vor vier Uhr wieder an dieser Stelle einzufinden. Dann fuhr er die Hauptstraße weiter in Richtung Basar und schlängelte sich durch die Menschenmenge, bis er nicht mehr zu sehen war.
    »Sollen wir zusammen losgehen?«, fragte Martin.
    »Nein«, erwiderte Kalu. »Ich will das allein machen.«
    Martin zuckte mit den Achseln und entschied sich, in die Ashwin entgegengesetzte Richtung zu gehen. »Also dann, wir sehen uns um vier.«
    Kalu presste seine Flöte an die Brust. Um ihn herum vermischten sich lautes Hupen mit den Rufen der Ladenbesitzer und dem Lachen von Kindern auf dem Heimweg zum Mittagessen. Zwei Affen kreischten im Kampf um ein paar Essensreste, wurden jedoch vom Geschrei einiger um den Preis von Plastikbehältern feilschender Frauen übertönt. Wetteifernde Geräusche umgaben ihn und überlagerten alles, was er sah. Keins davon erinnerte ihn an den Raga Desh, wie er ihn kannte.
    Kalu ließ sich auf dem geborstenen Pflaster neben dem Wagen nieder und ließ sich von den Geräuschen umspülen. Er hörte keine Musik. Nur Krach.
    *
    Der Guruji betrat Kalus Zimmer und setzte sich auf einen Stuhl an seinem Bett. Der Junge lag mit dem Gesicht zur Wand. Es war dunkel im Zimmer, aber der Guruji schaltete das Licht nicht ein.
    Kalu hörte den Mann und schloss die Augen, obwohl er wusste, dass er sie irgendwann würde öffnen müssen. Und dann wäre alles zu Ende.
    »Kalu.« Die Stimme des Guruji klang weich, auch wenn schwer wie ein Berg ein unausgesprochener

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