Der Klang der Sehnsucht - Roman
ging es schon die ganze Woche.
»Kalu, ich spreche jetzt vor allem zu Martin, aber was ich sage,
kommt auch dir zugute, also pass gut auf. Martin muss den Unterschied zwischen westlicher und indischer Musik verstehen. Interessant für dich ist es, die Theorie einmal aus anderer Perspektive zu sehen.«
Kalu hoffte, dass Martin den Guruji besser verstand als er. Statt im Musikraum, wo Kalu für gewöhnlich unterrichtet wurde, saßen sie in dem Zimmer, in dem der Diwan stand. Es war so groß, dass alle drei mit ihren Instrumenten auf dem Boden Platz fanden. Allerdings war es ein wenig dunkler dort. Das Zimmer grenzte zwar ebenfalls an die Veranda, aber auf dieser Seite bildeten die sich um die Balken rankenden Bougainvilleen ein Pflanzendach, das den Raum kühl hielt und wenig Licht hereinließ. Die blauen Wände erinnerten Kalu an ein sauberes, klares Schwimmbecken. Der Guruji räusperte sich, und Kalu merkte auf.
»Wahrscheinlich ist es leichter für Sie, Martin, wenn wir mit den einzelnen Tönen beginnen statt mit einem ganzen Raga. Sobald Sie die Bedeutung jeder Note verstanden haben, gehen wir zu den Verbindungen über, aus denen jeder Raga entsteht. Sagen Sie mir bitte noch, wie viel Sie bereits wissen.«
Martin zuckte mit den Achseln, eine Bewegung, die seinen ganzen Körper erfasste. »Nicht allzu viel, fürchte ich. Ich weiß, dass eine indische Oktave Samtak genannt wird, was sieben Töne bedeutet, ja?«
»Sie sind nahe dran. Die Bedeutung ist richtig, aber es heißt Saptak .« Der Guruji buchstabierte das Wort für Martin auf Englisch und wies Kalu an, es in Hindi und Englisch aufzuschreiben.
Kalu zog eine Grimasse. In zwei Schriften zu schreiben war nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung. Dennoch schwieg er, gespannt, wohin diese erste Lektion mit Martin führen und ob Martins Hinterteil durchhalten würde. Er merkte, wie der Mann sein Gewicht unablässig von einer auf die andere Seite verlagerte, genau wie er selbst es in seiner Anfangszeit getan hatte.
»Diese Oktave kann in sechsunddreißig Shruti unterteilt werden; die meisten Musiker arbeiten in der Praxis allerdings mit zweiundzwanzig. Die Shruti sind Modifizierungen der sieben Svar, die die Tonleiter bilden und identisch mit der europäischen diatonischen Tonleiter sind. Wir nennen das Raga Bilaval.« Der Guruji griff nach der Vina und umfasste das Instrument. »Ich könnte es Ihnen auf der Flöte vorspielen, aber wenn ich die Vina nehme, kann ich spielen und gleichzeitig sprechen. Dies ist der Svar Sa . Und so klingen die Shruti um Sa herum. Sie reichen von flach bis sehr flach und von scharf bis sehr scharf. Jetzt versuchen Sie es mal.«
Martin hatte bereits nach Geige und Bogen gegriffen. Er fand den Ton und spielte dann die Töne darum herum, indem er sie dem Klang der Vina anpasste.
»Woher wissen Sie, dass es stimmt? Gibt es eine Formel für den Unterschied zwischen scharf und sehr scharf?« Martin spielte dieselben Töne immer wieder, während er sprach und sein Kinn sich fältelte wie eine Ziehharmonika.
»Gehör und Übung«, erwiderte der Guruji. »Unsere Überlieferung ist rein mündlich und rein akustisch. Und Sie müssen singen.« Als der Guruji sah, dass Martin eine Grimasse zog, beruhigte er ihn. »Keine Sorge, ich werde Sie nicht singen lassen. Sie haben bereits ein gut ausgebildetes Gehör.«
»Was ist mit –«
»Du hörst jetzt nur zu.« Der Guruji ließ Kalu nicht einmal seinen Satz beenden. »Wenn du wie Martin spielen könntest und seit fünfzehn Jahren spielen würdest wie er, wäre es etwas anderes.«
Kalu grinste. Ein Versuch konnte nicht schaden.
»Auch wenn wir Noten schreiben, müssen Sie in der Lage sein, intuitiv zu spielen, um innerhalb der Beschränkungen des Raga … aber dazu komme ich ein anderes Mal. Im Moment wollen wir uns nur an die Töne halten.«
Martin legte die Geige neben sich ab und nutzte die Bewegung,
um seine Beine auszustrecken, ehe er sie wieder kreuzte. »Gibt es eine Grundtonleiter?«
»Nicht direkt. Unsere Töne werden auf ähnliche Weise benannt wie bei Ihnen do, re, mi. Wir haben Shadj (Sa), Rishabh (Ré), Gandar (Ga), Madhyam (Ma), Pancham (Pa), Dhaivat (Dha) und Nishad (Ni).
Jeder Ton kommt von einem anderen Körperteil. Kalu, sing die Töne, und zwar aus dem Bauch.«
Kalu war gut vorbereitet. Er hatte damit gerechnet, dass das Singen ihm zugeteilt würde.
»Hören Sie, dass die Töne tief beginnen und sich dann fortbewegen?« Der Guruji nickte anerkennend, als Kalus
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