Der Klang der Sehnsucht - Roman
Stuhl des Guruji entwischte.
Später erinnerte Kalu sich nicht mehr, wie das Wetter an jenem Tag gewesen war oder warum er ins Haus gerannt war und so laut nach dem Guruji gerufen hatte. Er wusste nur noch, dass er sich hinter seinem Lehrer versteckt und mit dem Zeh das Narbengeflecht an seinem Knöchel gerieben hatte. Und dass der Guruji ihm sagte, Martin sei ein Musiker, den ein Freund ihm empfohlen habe.
Es war das erste Mal, dass Kalu einen echten, lebendigen Weißen aus der Nähe sah. Touristen fanden nur sehr selten den Weg in das Dorf am Fuß des Berges oder nach Hastinapore. Für einen Gora gab es dort nichts zu sehen. Dieser Mann hatte gelbes Haar, und seine Haut war weiß wie Verbandszeug. Auf der Nase hatte er rosa Flecken. Er war nicht auf die gleiche Weise weiß, wie Kalu braun war. Man hätte seine Haut eher mehrfarbig nennen können.
»Kalu, komm hinter dem Stuhl vor. Setz dich ordentlich hin. Sag Martin Guten Tag, wie es sich gehört und wie er es verdient. Er ist ein ausgezeichneter Musiker. Früher war er ein Wunderkind.«
Kalu musterte den Fremden. Der Mann war anscheinend Musiker, aber seine ungelenke Art zu sitzen erregte Kalus Argwohn. Er konnte bestimmt nicht lange genug mit gekreuzten Beinen sitzen, um irgendetwas zu spielen.
Der Guruji sagte immer, der Geist der Musik spiele eine größere Rolle als die Noten. Ein wahrhaft großer Musiker würde die
sen Geist, den Geist des Göttlichen, durch sie sprechen lassen. Dieser Mann sah nicht aus, als beherrsche er dies. Er war zu beflissen, lächelte mehr als nötig und sprach so schnell, dass Kalu ihm kaum folgen konnte. Er sprach Englisch, gemischt mit ein wenig Hindi, das aber kaum erkennbar war. Dabei fuchtelte er mit den Armen, bis er den ganzen Raum auszufüllen schien.
Selbst der Guruji, der seine Präsenz gerade durch seine Reglosigkeit spürbar machte, wurde von diesem ›Mati‹ in die Ecke gedrängt.
Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Ashwin über den Fremden auszufragen, und zugleich dem Bedürfnis, im Bücherzimmer zu bleiben, um zu erfahren, was als Nächstes geschah, rutschte Kalu immer näher an die Stuhlkante.
Nun nahm Martin auf Wunsch des Guruji seine Geige, drehte die Wirbel am Ende und begann, eine Melodie »aus der Heimat« zu spielen. Im Laufe der Zeit sollte Kalu alles von Bach bis Prokofjew, vom Bairam bis zum Bihac auf Martins Geige hören. An jenem Tag jedoch spielte er ein einfaches Volkslied. Es wogte bald hierhin, bald dorthin, wie die Dünung des Meeres, in ihm war der Ruf nach der Heimat, die Sehnsucht nach einer Geliebten und dem Fluss, wo er ins Meer mündete. Der Geruch und die Schärfe von Salz.
Kalu war nicht bewusst, dass er sich während der Darbietung auf die Lippen biss und aufstand, um sich unmittelbar vor Martin aufzustellen. Beim letzten Nachklang der Melodie legte Kalu einen Finger auf den noch warmen Bogen. Er spürte, wie die gespannten, vibrierenden Haare an seiner Haut zur Ruhe kamen. Kalu brauchte einen Moment, um wieder in die Realität zurückzukehren.
»Warum wollen Sie bei mir lernen?«, fragte der Guruji. »Und was? Es gibt auf der ganzen Welt Lehrer für klassische indische Musik. Sie selbst sind ein vielbeschäftigter Musiker und könnten sich von den Besten unseres Fachs unterrichten lassen. Warum kommen Sie ausgerechnet hierher?«
»Sehen Sie, als Kind habe ich mich nie für östliche Musik interessiert. Nicht einmal in meinen Anfängen als Berufsmusiker. Ich habe das für einen alten Hut gehalten – das Überbleibsel einer Mode aus den Sechzigern. Bis zu dem Abend, als ich in New York Ravi Shankar spielen hörte. Das Konzert, das in der Kathedrale St. John the Divine stattfand, begann bei Sonnenuntergang und endete bei Tagesanbruch. Es war kalt und regnerisch an jenem Tag. Ich weiß noch, dass meine Gemütslage in ihrer Düsterkeit dem nebligen Wetter um nichts nachstand.«
Martin sah den Guruji an. »Meine Dämonen hatten mich in dieser Woche überfallen, und ich besuchte das Konzert nur, weil ich Freikarten hatte und mein Agent auch hinging. Doch als Ravi Shankar spielte, begann seine Musik zu mir zu sprechen. Es war etwas in seinem Spiel, das in der Finsternis zu mir stand und mir Mut verlieh. Ich weiß nicht, was er in jener Nacht gespielt hat.
Es war, als hätten die anderen fünftausend Zuhörer sich in Luft aufgelöst. Es gab nur noch mich, die Sitar, den Rhythmus der Trommeln und das Sirren der Tanpura, das die Musik erdete. Mich erdete. Und in den letzten
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