Der Klang der Sehnsucht - Roman
Stimme verklang.
»Also ist Sa Ihr Grundton?«, fragte Martin.
»In unserer Musik herrscht nicht das gleiche Gefühl für Tonarten. Die klassische indische Musik kennt keine Harmonien, ja nicht mal vorgegebene Melodien. Jedenfalls nicht auf die gleiche Weise, wie sie in der westlichen Klassik oder in der afrikanischen A-Capella-Tradition existieren. Jeder Ton oder Svar hat eine individuelle Qualität, die in seinem Verhältnis zu Sa anklingt. Hören Sie zu, das ist Sa, der erste Ton, und das Ma, der vierte.« Der Guruji schlug nacheinander die Töne an und bedeutete Martin und Kalu mit einem Nicken, ihm auf ihrem jeweiligen Instrument zu folgen.
»Sa und Ma repräsentieren die Ruhe. Re weist auf eine raue, harte Stimmung, Ga und Dha sind feierlich und ein wenig ernst, Pa bedeutet Freude und Ni Kummer.«
Der Guruji stellte die Vina auf dem Boden vor sich ab. Durch Kalebassen an beiden Enden des Instruments stand es wie ein Tisch zwischen den Schülern und ihrem Lehrer.
»Die Töne stehen außerdem in Beziehung zu Tierlauten«, fuhr der Guruji fort. »Hast du sie dir gemerkt, Kalu? Was war Ré?«
»Das Muhen der Kuh.« Kalu muhte.
»Ni?«
»Das Trompeten des Elefanten.«
»Sehr brav, mein Junge.« Der Guruji wandte sich an Martin. »Sie müssen eines wissen: Die Raga-Musik hat etwas mit dem Herzen, der Bindung an unsere Mutter Indien und an das Göttliche zu tun. Wie der Jazz, der aus Rebellion und dem Drang des Geistes entstand, sich gegen einen Zustand zu erheben, ist der Raga Teil unserer Tradition und unseres Erbes. Dieser Aspekt hat häufig größere Bedeutung als der theoretische Zusammenhang. Lassen Sie uns nun etwas Richtiges spielen. Sie werden die ungeheuere Vielschichtigkeit unserer Musik erkennen. Und Martin – zappeln Sie doch nicht so herum. Sie sind ja genauso schlimm wie früher Kalu. Kalu, hol ihm einen Hocker und ein oder zwei Kissen.«
»Oder drei«, rief Martin, außerstande, sich zu erheben, um die Kissen zu holen.
*
Kalu und Martin saßen auf der Rückbank des Jeeps, während Ashwin den Hang hinunterfuhr.
»Passiert das immer, wenn man ihm eine Frage stellt?«, fragte Martin.
Beim Frühstück hatte Martin den Guruji gefragt, was einen Raga nun ausmache, wenn es keine richtige Tonart und keine Melodie gab. Darauf hatte Ashwin aufstöhnend den Tisch verlassen.
Kalu beobachtete den Guruji, als dieser die Frage beantwortete. An seinen zusammengezogenen Brauen erkannte er, dass Martins Frage nicht leicht zu beantworten war. Martin schien gern alles von hinten aufzurollen. Er fragte stets, wie etwas nicht beschaffen sei, statt einfach um eine konkrete Erklärung zu bitten.
Der Guruji überlegte. Anders als Ganga Ba, die auf alles eine schnelle Antwort parat hatte, nahm sich der Guruji viel Zeit, eine Erklärung zu geben.
»Der Raga ist zunächst ein Rahmen. Eine Idee und dann erst Musik. Ohne seinen Geist ist ein Raga nichts. Statt euch Vorträge über den Raga zu halten, werde ich euch eine Aufgabe stellen. Sie ist ganz einfach.«
Nun stöhnte auch Kalu, denn bei seinem Guruji war nie etwas ›ganz einfach‹.
Keine halbe Stunde verging, bis Ashwin Martin und Kalu mit dem Jeep an einen unbestimmten, etwa eine Stunde entfernten Ort brachte. Der Guruji hatte sie mit den steigenden und fallenden Klängen des Raga Desh ausgestattet und beauftragt, diesen Raga ausfindig zu machen. Sie hatten einen Tag Zeit. Der Guruji selbst begleitete sie nicht. Ashwin erklärte Martin, dass der Guruji zwar gern Besucher empfing, aber nie und unter gar keinen Umständen das Haus verließ.
»Aber warum denn nicht?«, fragte Martin.
Kalu hatte gehofft, nun endlich eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, aber Ashwin sagte das Gleiche wie immer. »Da müssen Sie den Guruji fragen.«
»Wie viele Ragas gibt es überhaupt?«, fragte Martin, während sie im Jeep durch das Dorf am Fuße des Hangs brausten.
»Hunderte«, erklärte Kalu prompt. »Und jedes Jahr entstehen neue. Der Guruji sagt, jeder Raga hat eine besondere Zeit und einen besonderen Ort. Einige Ragas sind sehr zart und sollten nur am Morgen gespielt werden. Andere sind für den Abend. Aber üben kann man sie den ganzen Tag.«
»Mein Lehrer war genauso«, sagte Martin. »›Übung macht den Meister‹, hat er immer gesagt, wenn draußen die Sonne schien und ich mit meinen Freunden spielen wollte.«
Kalu schüttelte den Kopf und lächelte. Er wollte Martin nicht sagen, dass ihm nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung stand, um sich der Mühe
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