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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Lippen zu verbrühen. »Übertreib es nur nicht. Wir wollen ja nicht, dass Ganga Ba denkt, sie käme ohne dich aus.« Sie fürchtete immer, Malti könnte ihre Stelle verlieren, wenn sie ihre Besuche zu Hause zu lange ausdehnte.
    »Ganga Ba hat von sich aus angeboten, dass ich fahren soll, als sie von deiner Augenoperation gehört hat.« Ganga Bas ersten Vorschlag, dass ihre Familie jemand anderen um Hilfe bitten solle, zum Beispiel eine ihrer Tanten, erwähnte sie nicht. Als Zweites hatte sie angeboten, ein Mädchen zu bezahlen, damit es sich ein paar Tage um Maltis Mutter kümmerte.
    Malti sorgte dafür, dass ihre Freundin Kavita sie bei Ganga Ba vertrat. Kavitas Arbeitgeberin und Ganga Bas Freundin Sukenya Ben ging auf Wallfahrt und hatte diesen Vorschlag deshalb unterstützt. »Du würdest mir einen Gefallen tun, Ganga Ba. So kann ich sicher sein, dass Kavita nicht überall herumschwänzelt, wenn ich fort bin. Bei dir ist sie unter Aufsicht, sonst weiß
der Himmel, was sie mit meinem guten Ruf anstellt.« Ganga Ba konnte nicht ablehnen. Vor allem, da Kavitas Hilfe sie nichts kosten würde.
    »Du hättest nicht kommen sollen, Malti. Die Nachbarn hätten sich schon um mich gekümmert. Außerdem hätte es deinem Vater nicht geschadet, ausnahmsweise für sich selbst zu sorgen. Dann hätte er mal gesehen, welche Mühe ich mit ihm habe.«
    »Aber ich will dir doch helfen, Ma. Darf ich meiner eigenen Familie nicht helfen, weil ich bei Ganga Ba arbeite? Besonders nach deiner Operation.« Malti sprach nicht aus, was sie gern gefragt hätte: Freut ihr euch denn gar nicht, dass ich hier bin? Natürlich wusste sie, dass sie sich freuten. Aber ihre Eltern, besonders ihre Mutter, hüteten sich davor, ihr zu viel von ihrer Zuneigung zu zeigen. Nur bei Raja, der freigebig mit Zärtlichkeiten war wie andere mit Süßigkeiten, hielten sie sich nicht zurück.
    »Das liegt daran, dass wir ihn behalten dürfen, Malti«, hatte ihre Mutter ihr erklärt, als sie noch klein war und wissen wollte, warum Raja öfter seine Lieblingsspeise bekam als sie. »Es ist die Bürde einer Mutter, ihre Töchter fortgeben zu müssen, und ihr Schatz, ihre Söhne behalten zu dürfen.«
    Genau wie heute hatte Malti auch damals geschwiegen. Das war eben der Lauf der Dinge.
    *
    Sie stand kerzengerade, den Körper gestrafft. Im gelben Sari. Gelb, die Farbe der Reinigung. Das ganze Dorf war gekommen, um dem Ereignis beizuwohnen. Die Frauen scharten sich um sie. Die Männer standen entfernt, näher an dem Feuer in der alten 160-Liter-Tonne.
    Er stand auf der anderen Seite der Tonne, seiner Frau direkt gegenüber. Er roch seinen eigenen Schweiß. Die Jute, mit der sie ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt hatten, scheuerte. Er wusste nicht, warum sie sich die Mühe gemacht hatten. Jetzt,
da sich alle auf dem Platz versammelt hatten, konnte er ohnehin nicht entkommen.
    Die Dorfältesten hatten die Entzündung des Feuers bei Sonnenaufgang überwacht, und eine Schar junger Männer zusammengerufen, die sich in den folgenden sechs Stunden darum kümmerten. Der Priester hatte die beste Zeit für die Bestrafung bestimmt. Einer der Dorfältesten nahm einige glühende Scheite aus der Tonne und legte sie in eine große Schale aus Stahl, die auf einer erhöhten Plattform in einigen Metern Entfernung von den Frauen stand. Eine ältere Frau spuckte in den Staub, als er an ihr vorüberging.
    Die Frauen hatten den größten Teil der Nacht im Tempel bei seiner Frau verbracht. Sie hatte vierundzwanzig Stunden gefastet, außer ein wenig Wasser hatte sie nichts zu sich genommen.
    Die Oberhäupter des anderen Dorfes und der Besitzer der Ziege standen im Schatten beisammen, um aus der Ferne zuzuschauen. Es war sehr still. Sogar die Kinder, die zwischen den Beinen ihrer Eltern hindurch oder aus den Lehmhütten spähten, waren verstummt.
    Ramanlal, der Älteste, den man dazu auserkoren hatte, die Bestrafung zu überwachen, blinzelte in den Himmel, zog seine Taschenuhr hervor und wischte sich mit einem Zipfel seines Dhoti den Schweiß aus dem Gesicht. Die Uhr war sein und des Dorfes wertvollster Besitz, die einzige Taschenuhr im ganzen Bezirk.
    Der Angeklagte bewegte die Schultern und versuchte, sich statt auf die bevorstehende Feuerprobe auf die Fesseln an seinen Handgelenken zu konzentrieren.
    Er sah, wie Ramanlal noch ein letztes Mal die Glut überprüfte, bevor er wie ein Schiedsrichter die Hand hob. Langsam senkte er sie und begann zu zählen.
    »60, 59, 58 …
    Der Sari

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