Der Klang der Sehnsucht - Roman
aufpassen.«
»Dann benimm dich auch wie ein Erwachsener, und tu, was ich dir sage.« Der Guruji drehte sich um und verließ hastig den Raum, so dass Kalu nicht mehr antworten konnte.
Kalu drehte die Geldscheine in den Händen und dachte über das nach, was der Guru gesagt hatte. Wozu brauchte er Geld? Er hatte doch alles, um spielen zu können.
Dennoch musste er an die Zukunft denken. Er konnte sich nicht vorstellen, wieder auf der Straße zu leben. Sollte er von hier fortmüssen, würde er sich einen anderen Lehrer suchen, um bei ihm zu lernen, oder falls das unmöglich wäre, würde er sich eine Arbeit suchen. Jetzt, da er lesen und schreiben konnte, wäre das viel einfacher. Er fragte sich, ob der Guruji ihm das Geld gegeben hatte, um ihm zu sagen, dass er gescheitert sei.
Nein, das hätte er ihm direkt gesagt. Außerdem hatte er die Provision erwähnt, die er erhalten würde, wenn Kalu öffentlich auftrat.
Er rieb die Scheine zwischen den Fingern. Vielleicht konnte er, wenn er das ganze Geld sparte, ein eigenes Haus kaufen. Und dem Guruji alles zurückzahlen – mit Zinsen.
Dann könnte er so leben, wie er wollte, zusammen mit Bal. Kalu lächelte und fragte sich, wie viele solche Scheine er wohl brauchte, um seinen Freund freizukaufen. Sicherheitshalber würde er Bal noch nichts davon sagen. Er würde seinen Plan geheim halten, bis er Bal wirklich loskaufen könnte.
Wahrscheinlich würde es lange dauern. Bals Herr würde ihn nicht so leicht gehen lassen. Doch Kalu sehnte sich nach seinem Freund. Er hatte das Versprechen, das er ihm vor langer Zeit beim Abschied gegeben hatte, nicht vergessen und sorgte sich um ihn. Er war Bals einziger richtiger Freund, und Bal verstand ihn wie niemand sonst. Oft hielten die Leute den kleinen Büffel
hirten für naiv, aber dieser hatte sich entschieden, sich so zu verhalten, als wäre die Welt, wie sie sein sollte, und die Wirklichkeit zu ignorieren.
Er würde nie richtig froh sein, bis Bal es nicht auch war. Wenn er ihn freikaufen könnte, wären sie beide wieder zusammen. Bal könnte hierher ziehen, oder sie könnten sich ein Haus in der Nähe suchen und eine Familie sein.
*
Es hatte eine Weile gedauert, bis Kalu sich in der Gegenwart des Fremden wohl fühlte. So ging es ihm mit allen Gästen.
Der Haushalt bestand vornehmlich aus ihnen dreien. Vaid Dada kam etwa einmal im Monat zu Besuch und Martin immer wieder einmal für länger. Außerdem schauten häufig Studenten und Freunde vorbei, um sich auszutauschen und zu sehen, wie es dem Guruji und Ashwin ging, und natürlich um den neuen Schüler kennenzulernen.
Die Gäste kamen aus aller Welt. Kalu lernte Menschen aus China, Russland und Japan kennen. Menschen mit verschiedener Musik, die sich nicht nur durch ihr Spiel oder ihre Vorliebe für bestimmte Klangfarben unterschieden, sondern auch durch ihre Sprachen. Auch in ihren Stimmen verkörperte sich der Klang ihres Erbes.
Wenn das Haus voll war, schlief Kalu auf der Veranda und überließ sein Zimmer einem der Gäste. Ein wenig seltsam mutete ihn an, dass die indischen Gäste meist westliche Kleidung trugen, während die ausländischen indische Kleidung bevorzugten.
Martin war etwas Besonderes. Schon nach dem ersten Tag wurden sie enge Freunde. Martin war energisch und begeisterungsfähig. Er stellte dem Guruji Fragen, von denen Kalu nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Seine Herangehensweise war immer ungewöhnlich, und er wählte stets den Weg des größeren Abenteuers. Als Musiker war er innovativ, als Mensch
jung und vital, wie ein älterer Bruder. Die Duette, die Kalu mit ihm spielte, waren schnell und furios.
Martin war inzwischen ein wichtiges Mitglied von Kalus Familie, und der Junge dachte noch immer häufig an Martins Worte nach ihrem ersten Ausflug. »Schau, Kalu, ich verstehe dich sehr gut. Wirklich. Ich weiß, wie es ist, was du leisten musst, um spielen zu können. Aber versprich mir eins: Vergiss nicht zu leben.«
*
»Ganga Ba ist also mit dir zufrieden?« Maltis Vater setzte sich neben sie und strich ihr über die Haare; ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem straff geflochtenen Zopf gelöst. Der Geruch von Kokosöl, Tabak und Salz erinnerte sie an ihre Kindheit. Er nahm den Metallbecher mit heißem, süßem Tee, den sie ihm reichte, und blies darauf, damit er schneller abkühlte.
»Und wie lange kannst du diesmal bleiben?« Ihre Mutter nahm vorsichtig einen Schluck und sog den Tee dabei durch die Zähne, um sich nicht die
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