Der Klang der Sehnsucht - Roman
Kalu an. »Weißt du noch, wie ich dir früher gesagt habe, dass ich Hastinapore nie verlassen würde? Es scheint, als hätten die Götter mich erhört. Ich muss nicht in eine neue Stadt ziehen und neue Freunde finden. Und ich werde wieder eine Familie haben.«
Kalu schwieg. Ihm war nicht klar gewesen, wie sehr Malti sich nach ihrer Familie sehnte. So sehr, dass sie eine neue gründen wollte.
»Irgendwann wäre es sowieso passiert.«
Kalu senkte den Blick. »Ja, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so passiert.«
»Gib's zu, Großauge, du hast nicht geglaubt, dass es je dazu kommt …« Malti sprang auf, »… weil du damit beschäftigt bist, an all die Mädchen zu denken, die du mit deiner Flöte betörst. Kalu … oh, Kaluuu.« Sie rannte, und Kalu jagte sie um den Baum. Nachdem sie fast den Wäschekorb umgestoßen hatten, blieben sie stehen. Malti hob ihn auf, und sie machten sich gemeinsam auf den Weg zu Ganga Ba.
»Malti?«
»Ja?«
»Bist du sicher, dass du glücklich bist?«
»Ja, Kalu.«
»Und –«, Kalu zögerte, »was ist mit uns? Wird deine neue Familie mich als deinen Freund akzeptieren?«
Malti blieb stehen. »Uns? Alle wissen, dass ich dich zur Hochzeit eingeladen habe. Sie sind sehr beeindruckt – der berühmte Musiker und so weiter! Außerdem«, ihre Stimme klang nun entschlossen, »wenn Ganga Ba meine Schwiegereltern dazu bringen kann, dass ich sie weiter besuchen darf, dann kannst du, mein Freund, sie wahrscheinlich mit Leichtigkeit um den Finger wickeln. Wir bleiben Freunde. Für immer.«
»Für immer?«, versetzte Kalu und nahm Malti den Wäschekorb ab. »Das heißt, deine Schwiegereltern heiraten mich gleich mit?«
»Aré, Sala!«
»Genau!«
*
In dieser Nacht, als alle schliefen, schlich sich Kalu aus Ganga Bas Haus und schlenderte in den Ort. Der Mond verblich im grellen Licht der Straßenlaternen, die jeden Stein, jedes Stück Abfall und die großen Ratten beschienen, die sich in den Abwassergräben tummelten.
Kalu hatte vergessen, wie geschäftig selbst eine kleine Stadt wie Hastinapore war und wie viele Menschen in ihr lebten. In den Bergen hatte er sich so sehr auf seine Musik konzentriert, dass er an vieles überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Dinge, die ganz selbstverständlich für ihn gewesen waren, wie der Geruch von Tabak und das ständige Brummen der Generatoren.
Während Ganga Ba sich kaum verändert hatte, war Malti erwachsen geworden, als er mit Lernen beschäftigt war, und er hatte es nicht einmal gesehen, weil er so weit fort war. Auch wenn die Mädchen in Hastinapore mit ihm flirteten und er mit ihnen, war das nicht mehr als ein Spiel für ihn. Im Haus des Guruji schien die Zeit einen anderen Verlauf zu nehmen.
Als könnte er dort länger Kind bleiben, statt Verantwortung zu übernehmen. Er hatte noch so viel zu lernen.
Er konnte sich Malti nicht verheiratet oder mit Kindern vorstellen. Nein, das stimmte nicht. Er konnte sie vor sich sehen, glücklich und zufrieden, mit zwei verkleinerten Kopien von ihr selbst, Mädchen mit langen Zöpfen, die an ihrem Sari hingen.
Er konnte sich nicht vorstellen, selbst zu heiraten und eine Familie zu gründen. Er hatte keine Ahnung von solchen Dingen. Der Gedanke, dass jemand von ihm abhängig war, machte ihm Angst. Aber Malti wusste, wie es war, Eltern, Onkel, Tanten, Brüder und Cousins zu haben.
Kalu ging, bis sein Knöchel schmerzte, und marschierte dennoch weiter. Einige Menschen wurden von Geburt an geliebt.
Kapitel 9
Sie saßen in einer Rikscha. Entspannt passte der Vaid sich den Schlaglöchern und Kurven der Straße an, während Kalu immer wieder an den Metallrahmen gedrückt wurde. Kalus Augen tränten von den vielen Abgasen und Gerüchen in Bombay, aber schließen wollte er sie auch nicht und womöglich etwas versäumen. Er hatte geglaubt, Hastinapore sei groß. Wie winzig war es gegen Bombay! Wie ein kleines Volkslied, das mit einem großen Orchester konkurrieren will. Ihm fiel ein altes Lied ein, das Ashwin häufig beim Kochen sang.
Besonders gefiel Kalu der Refrain, in dem es hieß, die Männer hätten viel Würze. Von der Würze hatte er allerdings noch nichts gerochen, die sich aneinanderdrängenden Hochhäuser und das schiefergraue Meer, das mit dem grauen Himmel zu verschmelzen schien, hatte er bereits gesehen. Die Leute riefen oder winkten einander zu und ließen sich nicht im Geringsten vom Ge
wimmel der Rikschas, Taxis, Roller, Autos und der von Menschen, Ochsen oder Pferden gezogenen Karren
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