Der Klang der Sehnsucht - Roman
ungeschickten Tonfolge oder einem falschen Takt. Wenn sie mit Kalu und dem Guruji zusammen war, empfand sie nie, dass sie anders war. Sie freute sich jedes Mal auf die Musikstunde, in der sie alles vergessen konnte.
*
Kalu schloss die Augen. Er holte tief Atem, hielt ihn an und ließ ihn dann langsam durch den Mund entweichen. In der Ferne gab ihm der Schrei einer Krähe den Takt an. Er schlug die Augen auf, hob die Flöte an die Lippen und spielte.
Dieses Ritual wiederholte er, wann immer er spielte. Ob in den Feldern, im Garten oder im Dorf am Straßenrand, er schloss stets die Augen, ehe er zu spielen begann. Er ließ die Atmosphäre in seine Haut eindringen, bis er die Eigenschaften seiner Umgebung beinahe schmecken konnte. Sich einweichen nannte er das. Der Guruji nannte es Eintauchen.
Selbst hier auf seinem Motorroller, noch eine Stunde von Hastinapore entfernt, vollzog Kalu sein Ritual. Er spürte die Hitze
und nahm den beißenden Geruch des Benzins von seinem Motorroller wahr, der ihm nun regelmäßige Ausflüge nach Hastinapore ermöglichte.
Nach seinen Flöten war die Honda Kinetic Kalus stolzester Besitz. Ashwin, Vaid Dada und der Guruji hatten sie ihm gemeinsam geschenkt. Zugleich hatte er auch einen Pass bekommen. Als Geburtsdatum hatten sie den 27. September eintragen lassen, den Tag, an dem Kalu im Haus des Guruji eingetroffen und von ihm als Schüler angenommen worden war.
Er fuhr viel lieber mit dem Roller als mit dem Zug oder dem Bus. Er konnte anhalten, wann und wo es ihm gefiel, und war außerdem noch schneller. Die neue Straße kam ihm sehr zugute. Mit seinem Roller konnte er sich in aller Ruhe durch den Verkehr schlängeln, ohne ständig das Gerede von Mitreisenden oder die Rufe der Verkäufer im Zug im Ohr zu haben. Stattdessen konnte er im Geiste weiter Musik machen. Normalerweise entschied er sich am Anfang jeder Fahrt für ein Stück, mit dem er sich für ihre ganze Dauer beschäftigte.
Als der letzte Flötenton verklungen war und Kalu die Augen aufschlug, war er nicht mehr allein. Angezogen von seinem Spiel, hatte sich eine Gruppe Kinder um ihn versammelt.
»Wie machst du das?«, fragte ein Junge.
Kalu konnte durch die Löcher in dessen Hemd die Rippen des Kindes zählen. Er fühlte sich an sich selbst erinnert, als er klein war. Er nahm eine kürzere Flöte aus dem Kasten und reichte sie dem Jungen. »Hier musst du hineinblasen. Siehst du? Versuch es mal ganz vorsichtig.«
Der Junge nahm die Flöte mit beiden Händen und hinterließ eine Schmutzspur auf Kalus Hand, als dieser das Instrument so drehte, dass der Junge hineinblasen konnte.
Der Ton, der dabei entstand, war so laut und klar, dass der Kleine überrascht zusammenfuhr.
»Immer mit der Ruhe.« Kalu lachte. »Das war schon ein guter Anfang.«
»Aber es hat sich nicht angehört wie bei dir.«
»Dazu braucht man Übung. Zumindest hörst du den Unterschied.« Kalu hielt inne. Er musterte die kleine Hand, in der die nun etwas schmierige Flöte lag. »Du kannst sie behalten.«
Aufgeregt und mit geschwellter Brust nickte der Kleine. »Wirklich? Nur für mich, nicht für meinen Bruder?«
»Nur für dich«, erwiderte Kalu. »Alle mal zuhören«, sagte er und sah die Kinder der Reihe nach an. »Ihr seid Zeugen, dass diese Flöte nur … wie heißt du, mein Junge … gehört?«
»Tushar.«
»Aber wir nennen ihn Tambu!« Die Kinder lachten.
Tushar blickte finster, und seine Miene hellte sich erst auf, als Kalu die anderen ignorierte, ihm die Hand schüttelte und ihm zeigte, wie er in die Flöte hineinblasen musste. Am Ende der Unterrichtsstunde versprachen die Kinder, darauf zu achten, dass Tambu die Flöte behalten durfte, und ihm zu helfen, darauf aufzupassen.
Kalu rieb sich die schwieligen Finger, um den Schmutz zu entfernen, packte seine Flöten zusammen und kehrte zu seinem Roller zurück.
Bald würde er in Hastinapore sein. Und seinen Freunden erzählen, dass er Indien verlassen würde. Nicht für immer, aber für ganze drei Wochen. Martin hatte den Guruji gefragt, ob Kalu ihn auf seine nächste Tournee begleiten dürfe, und zu Kalus Erstaunen hatte der Guruji es erlaubt. Die Reise ging nach Amerika und vielleicht nach Kanada.
»Ich dachte, ich soll erst professionell auftreten, wenn ich alles weiß.«
»Der Tag, an dem du alles weißt, ist dein Todestag. Es ist meine Aufgabe zu bestimmen, wo und wann du auftrittst. Ich weiß nicht, ob das größere Publikum schon bereit für dich ist, mein Sohn, aber du bist
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