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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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ihre Gesichter. Malti merkte sich die Entfernung zum Haus im sich verändernden Licht, Rot zu Weiß, Feuer zu Elektrizität. Ihre Schritte verlangsamten sich unter den nackten Birnen, die die Geschäfte erleuchteten. Sie registrierte die bronzefarbenen und grünen Verpackungen der Süßigkeiten in dem Laden an der Ecke und die abblätternde Farbe an der Mauer neben dem Panwalla.
    In letzter Zeit war sie selten im Dunkeln ausgegangen, aber Ganga Ba ging es neuerdings nicht so gut, und sie verlangte oder vielmehr befahl Malti, sich bereitzuhalten und ihr vorzulesen. Ihre Schwiegermutter zeigte sich verständnisvoll.
    »Diese Frauen, die niemanden haben, der sich um sie kümmert. Kein Wunder, dass sie alle herumkommandiert. Ich verstehe nur nicht, warum sie nicht zu ihrer Familie zieht. Ihre Schwester lebt nicht sehr weit weg, und ihre Tochter ist in Amerika. Sie ist wahrscheinlich einsam. Leiste ihr ruhig für ein paar Stunden Gesellschaft, Malti, nur bis die Sonne untergeht.« Die anderen Worte blieben ungesagt, aber Malti folgte ihnen dennoch. Sie kam stets vor ihrem Mann nach Hause und half, das Abendessen zuzubereiten.
    Still stand sie hinter ihrem Mann, um ihm die heißen Fladenbrote zu reichen. Sie sorgte dafür, dass seine Schale zu genau drei Vierteln mit Dhal gefüllt war. Papaji, ihren Schwiegervater, bediente sie auf die gleiche Weise. Nachdem ihre Schwiegermutter Vimu Ba Platz genommen hatte, setzte auch sie sich, behielt aber alle Teller im Auge, um jederzeit Gemüse oder Dhal nachreichen zu können.
    Das Gespräch der Männer floss an ihr vorbei, während sie den warmen Dhal mit dem Reis aufnahm und sorgfältig darauf achtete, keine Geräusche zu machen, wenn die Flüssigkeit durch ihre Finger in ihren Mund rann. Als sie beim ersten Mal ein bisschen geschmatzt hatte, hatte ihr Mann die Lippen aufeinandergepresst und sie mit einem angeekelten Blick betrachtet, als hätte er etwas Minderes und Bitteres geschluckt. Danach war sie sehr vorsichtig.
    Immer langsamer wurde Malti auf ihrem Weg durch den Basar. Verheiratet zu sein war offenbar nicht so, wie sie es in Filmen zeigten. Im Film meisterten Mann und Frau gemeinsam alle Schwierigkeiten, ganz gleich welcher Art. Und ihre Liebe stellte alles andere in den Schatten. Manchmal wünschte sie sich eine Liebe wie im Film, selbst wenn sie tragisch endete.
    Ihre Hochzeit war so aufregend gewesen. In der Nacht davor hatte Malti auf der hinteren Veranda gesessen. Es war warm und still. Ihre Mutter hatte sich zu ihr gesetzt. Eine Weile schwiegen sie.
    Dann seufzte ihre Mutter. »Sei wie Sita.«
    »Sei wie Sita«, wiederholte sie und legte ihre Hand segnend auf Maltis Kopf, bevor sie wieder ins Haus zurückkehrte.
    Im vergangenen Jahr hatte Malti sich diesen Satz mehrmals am Tag wiederholt. »Sei wie Sita.« König Ramas tugendhafte Gattin, die ihrem Mann in die Verbannung gefolgt war. Sita war so schön, dass selbst der Dämon Ravana sie für sich begehrte.
    Malti schüttelte den Kopf. Obwohl alle Sita liebten, hatte ihr diese Liebe kein Glück gebracht. Ihre Mutter hatte ihr Sitas Geschichte erzählt, Sita, die, ganz gleich was geschah, rein und gut geblieben war. Eine gute Ehefrau und Mutter. Malti hatte immer daran geglaubt. Doch mittlerweile fragte sie sich, wie Sita dies geschafft hatte.
    Sita hatte im Wald leben müssen. Schließlich wurde sie entführt und in Lanka in einem Haus voller Dämoninnen gefangen gehalten. Und als Rama sie befreite und wieder nach Hause brachte, zwangen ihn die Leute, Sita auf die Probe zu stellen, zu prüfen, ob sie nach der langen Zeit als Gefangene des Dämons ihre Reinheit bewahrt habe. Sita rief die Mutter Erde als Zeugin an. Die Augen voller Tränen und zitternd vor Zorn betete sie, wenn sie rein sei, möge die Erde sie aufnehmen. Sogleich öffnete sich die Erde und nahm Sita zu sich. Fort von ihren Söhnen. Fort von Rama, den sie zu lieben geglaubt hatte und der jetzt erst erkannte, was er verloren hatte.
    Doch weder war das Leben ein Film, noch konnte sie je sein wie Sita, obwohl sie sich bemühen würde. Malti holte tief Luft und bog um die letzte Ecke vor ihrem Haus. Dort begegnete sie der Verrückten Jasu, die im Gehen unablässig vor sich hin sprach. Jasu war einst verheiratet und eine gute Ehefrau gewesen. Aber eines Tages war alles anders geworden. Es war kein allmählicher Wandel gewesen. Jasu wurde plötzlich wahnsinnig. Fing an, mit sich selbst zu reden. Sich selbst zu schlagen. Sie riss sich sogar die Haare aus.

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