Der Klang der Sehnsucht - Roman
beibringen sollen, aber er hatte es nicht abwarten können. Er hatte eine wichtige Lektion vergessen, die er selbst auf der Straße gelernt hatte: Erwarte nie und von keinem etwas. Bal hatte dies nicht erwartet. Nein, nicht in einer Million Jahren. Kein Wunder, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte. Kalu wartete auf ein Zeichen von seinem Freund.
»Hat … hat der Guruji Büffel?«
»Nein, aber es gibt eine Menge anderer Dinge, die du machen kannst.«
Bal schwieg. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Aber Kalu, ich kann nichts anderes. Ich bin zu nichts anderem nutze.«
Kalu winkte heftig ab, wie um ein Moskito zu verscheuchen. »Aber du kannst lernen. Genau wie ich.«
Bal zündete sich eine Bidi an. Er hielt sie wie eine zarte Blume, bevor er einen tiefen Zug nahm.
»Aber du hast diese Dinge vor langer Zeit gelernt. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin zu alt, um noch etwas zu lernen. Ich bin wie ein alter Elefant. Im Tempel hatten sie doch diese Elefantenkuh, du weißt schon. Ich habe sie immer beobachtet. Sie hieß Savitri. Sie hatten sie gelb angemalt. Die Farbe leuchtete, ihre Augen nicht. Tag für Tag stand sie dort, sammelte Geld und segnete die Leute. Eines Tages zerbrach ihre Kette. Die Kinder aus dem Dorf wedelten mit den Armen und schrien, um sie zur Flucht zu ermuntern. Aber Savitri rührte sich nicht. Alle fanden es dumm von ihr, einfach dort stehen zu bleiben. Zu warten, bis sie wieder angekettet wurde. Aber ich konnte sie verstehen. Ich habe ihr in die Augen gesehen. Sie waren wie meine.«
»Aber –«
Bals Stimme brach. »Nein, Kalu.«
*
Kalu verließ Bal. Er wanderte, bis seine Füße schmerzten. Als er nicht mehr weiterkonnte und aufschaute, merkte er, dass ihn sein Weg um die Stadt herum und an den Feldern vorbei zu dem Tempel geführt hatte, an dem er damals vor vielen Jahren aufgewacht war. Kalu bückte sich kurz, um wie damals die Erde zu berühren.
Er blickte den langen Pfad entlang zurück. Es war ruhig hier und einsam. Wieder einmal fragte er sich, wer ihn hier zurückgelassen hatte und warum. Ob die Person es getan hatte, weil hier niemand sehen würde, dass sie ein Kind aussetzte. Oder war es eine spontane Entscheidung gewesen? Fragen, auf die er nie eine Antwort erhalten würde. Als Kind hatte er sich immer wieder gefragt, wer seine Familie war und warum sie ihn verstoßen hatte. Mit zunehmendem Alter war ihm bewusst geworden, dass er sich selbst eine Familie schaffen musste. Und einen Menschen, der ihm näher war als Bal, hatte er nie gefunden. Er würde Bal niemals verlassen. Aber es war ihm auch nie in den Sinn gekommen, dass Bal seine Hilfe ablehnen würde. Dass Bal ihn zurückweisen würde.
Der Baum stand noch dort, groß und mit ausladenden Ästen, die sich wie ein Baldachin über den Weg breiteten. Kalu suchte die Öffnung zu dem unterirdischen Raum, aber sie erschien ihm jetzt viel kleiner.
Er drängte die Wurzeln beiseite, um das Loch so zu erweitern, dass er hindurchpasste. Der Geruch nach feuchter Erde und eine kühle Brise, die irgendwie ihren Weg nach unten fand, umgaben ihn.
Kalu sank zu Boden. Er erinnerte sich an die Freude, die er vor langer Zeit beim Spielen der kleinen Plastikflöte empfunden hatte. Er hatte nie daran gedacht, dass er auf den Flügeln seiner
Musik davonfliegen konnte, während andere zurückblieben. Dass seine Entscheidung für die Flöte die Dinge für immer verändern würde. Bal hatte sich statt für Kalu für sein Leben in Hastinapore entschieden. Warum, konnte Kalu nicht verstehen. Er begann zu spielen. Den Raga Bhairav. Den Raga, den er vor langer Zeit hier geübt hatte. Obwohl es der gleiche Raga war, war seine Melodie veränderlich und flüchtig, wie bei allen Raga. Es würde nur dieses eine Mal ertönen, dieses Lied aus Kalus Herzen. Diesmal klang es tief und schwer, dennoch wandelte sich das Gefühl von Verlust und Sehnsucht darin in Trost und Liebe. Kalu erkannte, dass die Musik ihm etwas Frieden und ein wenig Verständnis brachte. Die Töne konnten sich ebenso wenig aus ihrem vorgegebenen Aufbau fortbewegen wie Kalu oder Bal aus ihrem.
Der Raga verklang, und Kalu streckte sich ausgiebig. Noch immer tat ihm das Herz weh, aber er würde nicht im Zorn von Bal scheiden, das wusste er.
*
Rauch stieg auf, als die Sonne unterging, und das Aroma von Dung und Holz trug einen Hauch von Erinnerung in sich. Die Glut beleuchtete das Weiße in den Augen der Kinder, die sich um die kleinen Feuer am Weg scharten, und warf Schatten auf
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