Der Klang der Sehnsucht - Roman
allmählich einem tiefen Frieden wich.
Ein letzter Hauch von Nachtluft strich über Kalus Gesicht. Nach der ersten Auslandstournee hatte er sich für einen erfahrenen Reisenden gehalten. Aber diese Tour war länger und umfasste mehr Städte. Sechs Wochen Hotel, Konzertsaal, Musik, dann wieder Flughafen oder Bahnhof. Eine Stadt erschien ihm wie die andere. Tulsi würde wahrscheinlich wieder bei ihrem Onkel sein und zur Schule gehen, wenn er zurückkam. Ins College. Wenn es hier früher Morgen war, war für Ashwin der halbe Tag vorbei, ebenso wie für Malti. Er freute sich schon darauf, sie wiederzusehen. Ihr letztes Gespräch schien so weit zurückzuliegen.
Martin schlief noch. Kalu nahm seinen Flötenkasten, hinterließ eine Nachricht und schloss die Tür hinter sich. Er wanderte durch die leeren Straßen, bis er zu den Docks kam. Ihre Wollmützen tief ins Gesicht gezogen, schleppten Arbeiter Steigen voller zappelnder Fische von Bord der Schiffe und warfen das wogende Leben aus dem Meer in große, mit Eis bestückte Container. Der Boden war nass, die Luft frisch von Eis und Salz. Die massigen Körper der Männer schienen durch die dicken Sohlen ihrer Stiefel und ihre Ölhäute immun gegen alles. Ihr Gelächter, ihre Zurufe, der Lärm, die Dynamik und der Geruch nach Fisch erinnerten Kalu an den Fischmarkt in Hastinapore.
Die Männer arbeiteten hart und schnell. Kalu entdeckte einen Milchkasten auf der anderen Straßenseite und ließ sich darauf nieder, um zu spielen. Die Kühle ließ nach, als die Sonne
allmählich den Beton und Asphalt erwärmte. Kalu absolvierte seine morgendlichen Übungen, erst dann schloss er die Augen. Er spielte hart und schnell, und die Melodie wogte wie das Meer. Als er die Augen öffnete, war der Lärm auf den Docks verstummt, und die Männer standen im Kreis um ihn herum. Ein Häufchen Geldmünzen und ein kleines Kühlpaket mit Fisch lagen zu seinen Füßen.
*
»Malti, wir brauchen noch Dhana und Chili, was wir haben, reicht nicht für Chutney. Kannst du noch mal zum Markt gehen? Geh zu Govinda, er gibt immer Rabatt, wenn er ein hübsches Gesicht sieht. Aber gib acht, dass der Koriander auch frisch ist.«
»Ja, Vimu Ba.« Malti hielt den Kopf gesenkt, damit ihre Schwiegermutter nicht sah, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Jetzt musste sie dennoch ausgehen.
Bei ihrer Hochzeit hatte Malti erwartet, einen Mann zu bekommen, der sie liebte, und eine Schwiegermutter, an die sie sich eben gewöhnen musste. Doch je länger sie Vimu Ba kannte, desto mehr durchschaute Malti, dass ihre Strenge nur aufgesetzt war. An schlechten Tagen dachte sie, Vimu Ba könne sie nur gut leiden, weil sie gehorsam war. Für gewöhnlich war Malti jedoch überzeugt, dass ihre Schwiegermutter sie mochte, ja sogar liebte wie eine eigene Tochter. Malti füllte die Lücke, die Männer nicht füllen können und wollen.
Sie fragte sich oft, wie es möglich war, dass eine so gütige Frau wie Vimu Ba einen Menschen wie Maltis Ehemann zur Welt gebracht hatte. Allein der Gedanke, wie er seine Eltern hinters Licht führte, machte sie zornig. Und sie merkten es nicht einmal. Aber es war die Aufgabe einer Frau, alle in der Familie zufriedenzustellen und die Familie unter allen Umständen zusammenzuhalten.
Malti suchte sich einen Stoffbeutel, in dem sie die Einkäufe trans
portieren konnte. Sie kämpfte gegen die Röte in ihren Wangen an und fragte sich, ob sie schon genauso verlogen war wie ihr Mann. Eine Lüge blieb eine Lüge. Als sie den gelben Beutel gefunden hatte, holte sie tief Luft, straffte die Schultern und lächelte. »Ich bin gleich wieder da.«
»Lass dir Zeit. Beti, du bist den ganzen Tag im Haus gewesen. Du hast wirklich kaum Abwechslung. Aber stell dich nicht in die Sonne! Wir wollen nicht, dass du zu dunkel wirst.«
Malti wischte Vimu Ba mit der Hand ein bisschen unsichtbaren Mehlstaub von der Wange. Ihre Geste war fast eine Liebkosung. Nur Vimu Ba und Papaji machten ihr das Leben in diesem Haus erträglich. »Ich habe mehr als genug Zeit für mich. Du solltest dich lieber selbst mal ein bisschen schonen.«
Vimu Ba lachte und winkte ihr zum Abschied zu.
Malti blinzelte. Die Sonne war grell, als sie aus der dunklen Küche trat. Die kleinen Fenster und die dicken, gekalkten und mit Kuhdung versiegelten Wände schützten vor Moskitos und hielten das Haus kühl. Sie erfüllten die gleiche Funktion wie die Marmorböden und die Deckenventilatoren in Ganga Bas modernem Haus.
Der Basar war nicht weit von
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