Der Klang der Sehnsucht - Roman
ihrem Haus entfernt, aber Malti ging langsam, tat bei jedem zweiten Schlag ihres Herzens nur einen Schritt. Den Kopf hielt sie gesenkt, um sofort hören zu können, wenn Anand sie rief. Die Hitze schien ihre Haut zu reinigen und die Vergangenheit wegzubrennen, bis sie wieder frisch und neu war.
Sie achtete nicht auf die Häuser und Läden, die sich neben- und übereinander drängten. Sie winkte nicht einmal Jaya-shri Ben in ihrem Pan-Lädchen zu. Jaya-shri Ben wollte ihr nachrufen, erspähte aber einen Kunden und wandte sich ab. Malti hatte heute offensichtlich andere Dinge im Kopf.
Bald würde der Monsun kommen. Kaum zu glauben, dass seit ihrer ersten Begegnung mit Anand bereits ein Jahr vergangen war. Lächelnd hatte er ihr den vom Regen durchweichten Beu
tel überreicht und ihr geholfen, das Gemüse vom Boden aufzusammeln. Dabei hatte er ihre Hand berührt. Er lebte in einer drei Stunden entfernt gelegenen Ortschaft und arbeitete für eine Firma, die Fotogeschäfte belieferte. Daher kam er nur, wenn die örtlichen Läden etwas bestellten. Das war ungefähr drei- oder viermal im Jahr. Ihre Begegnungen waren, wie Malti sich einredete, harmlos. Sie unterhielten sich ja nur.
Hätte Vimu Ba sie nicht gebeten, zum Markt zu gehen, wäre Malti zu Hause geblieben. Sie hatte Anands Lieferwagen am Straßenrand gesehen, als sie mit der Wäsche vom Fluss gekommen war. Entschlossen war sie daran vorbeigegangen und hatte sich Kanti angeschlossen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Sie wusste, dass ihre Mutter dies von ihr erwartet hätte, ganz gleich, wie sehr sie seine Gesellschaft genoss. Sie war jetzt verheiratet, und verheiratete Frauen benahmen sich anständig. Allerdings hatte ihre Mutter keine Ahnung vom Leben ihrer Tochter.
Ganga Ba behauptete, dass Briefe eine ebenso gute Übung für Malti seien wie das Lesen. Großzügig wie immer stellte sie Malti die Zeit und das Material für ihre Briefe zur Verfügung und bezahlte sogar das Porto. Malti schrieb jede Woche an ihre Eltern und an Kalu. Da Raja jetzt zu Hause wohnte und ihre Briefe vorlesen konnte, brauchten ihre Eltern nicht mehr den weiten Weg zum Telefonhäuschen auf sich zu nehmen. Vielleicht hatte Ganga Ba auch ein schlechtes Gewissen, weil sie sich jeden zweiten Tag von Malti die Zeitung vorlesen ließ.
Bei Ganga Ba vergaß sie für eine Weile, dass sie kein Mädchen mehr war. Komisch, wie nützlich es sich für sie erwiesen hatte, lesen und schreiben zu können. Doch je besser sie schreiben lernte, desto weniger aufrichtig wurden ihre Briefe. Malti schrieb, wie sie ihre Tage verbrachte, wie gütig Vimu Ba und Papaji waren, über den neusten Klatsch und alles, was sonst noch um sie herum passierte. Sie wusste, dass ihre Familie sich für diese Dinge interessierte. Hin und wieder erwähnte sie auch ih
ren Mann, damit sie sich nicht wunderten und sich fragten, ob er in ihrem Leben eine ebenso geringe Rolle spielte.
Heute jedoch scheiterten alle ihre Bemühungen, Anand aus dem Weg zu gehen. Es musste Schicksal sein, dass Vimu Ba ausgerechnet an dem Tag seiner Rückkehr beschloss, Chutney zu machen, und der Koriander fehlte.
Malti rang nach Luft, als sie den Klang eines Liedes vernahm, und atmete erst wieder aus, als ihr bewusst wurde, dass es aus einem Radio kam.
An Govindas Stand türmten sich Chili und Koriander in Jutesäcken. Sie drückte die langen, grünen Chilischoten, um zu testen, ob sie frisch waren.
»Die sind alle gut, Ben, die besten auf dem ganzen Markt, vielleicht sogar in ganz Gujarat.« Govinda kannte Malti seit ihren Anfängen bei Ganga Ba. Er sagte jeden Tag das Gleiche. Und immer lächelte Malti und fuhr fort, seine Waren zu prüfen. Sie suchte den besten Bund Koriander heraus und legte ihn zu den Chilischoten in ihren Beutel.
Malti ging die Gasse in Richtung des Muslimviertels entlang. Irgendwo hinter ihr begann jemand zu singen.
Als ich dich sah, hätte ich nie gedacht, dass meine Welt sich ändern würde …
Sie blieb stehen. Hob den Kopf und ging dann weiter. Seine Stimme war so warm wie sein Lächeln. Er gab Malti das Gefühl, wichtig für ihn zu sein. Nicht weil sie etwas Bestimmtes tat, sondern weil sie sie war. Sie nahm den längeren Weg nach Hause, durch den Ort und am Flussufer entlang. Bald lag der Ort hinter ihnen, und sie konnten reden.
Kapitel 12
Adalaj
Die Gegend war trostlos, seit Jahrhunderten von den Göttern der Fruchtbarkeit verlassen. Sie und ihr Gemahl sollten das gemeinsam ändern. Nun musste sie es allein tun.
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