Der Klang der Sehnsucht - Roman
Sie verließ den kleinen Tempel und schritt die wenigen Stufen zum Eingang des Brunnens hinauf. Dort stand er, lächelnd, seine Augen verrieten seine Erregung ebenso wie der kleine Speicheltropfen, der in seinem Mundwinkel zitterte.
Er sah zu, wie sie die Treppe hinaufschritt, in dem schweren bräutlichen Ornat, das er ihr geschenkt hatte. Eine Königin für sein Königreich. Es hatte sich gelohnt, Vir Singh, ihren Gatten und Vaghela-König, zu beseitigen und zwanzig Jahre zu warten. Am Ende lohnte es sich immer. Neben ihr betrat er die erste Etage des Vav, des großen Stufenbrunnens. Die Hitze des Tages verschwand. Selbst hier in seinem obersten Stockwerk strahlten die Steine Kühle ab.
Als sie in die zweite Etage hinabstiegen, begannen die Dorfbewohner, die in den Arkaden um jedes Stockwerk standen, unter Anleitung des Priesters zu singen.
Om trayambakam yajamahe
Sugandhim pushtivardhanam
Urvarukamiva bandhanan
Mrityor mukshiya mamritat
Wir opfern der dreiäugigen Realität,
die alles Leben erblühen lässt.
Wie der Kürbis von der Fessel der Ranke befreit wird,
möge die Seele vom Körper befreit sein im Tod, denn sie ist unsterblich.
Fürchtet nicht den Tod.
Künftig würden Reisende unter diesen Arkaden Handel treiben und Zuflucht vor der Hitze des Tages finden, ehe sie ihren Weg in der Nacht fortsetzten. Jetzt standen seine Untertanen dicht gedrängt darin und warteten, dass die Königin auf dem Grund des Brunnens ein Schwert in den Sand stieß und die unteren Geschosse sich endlich mit Wasser füllten.
Om trayambakam yajamahe
Sugandhim pushtivardhanam
Urvarukamiva bandhanan
Mrityor mukshiya mamritat
Wir opfern der dreiäugigen Realität,
die alles Leben erblühen lässt.
Wie der Kürbis von der Fessel der Ranke befreit wird,
möge die Seele vom Körper befreit sein im Tod, denn sie ist unsterblich.
Fürchtet nicht den Tod.
Sie war schlau gewesen, diese Frau an seiner Seite, hatte ihm das Versprechen abgenommen, dem Land Wasser zu bringen und den Vav zum Angedenken an ihren toten Gatten fertigzustellen, bevor sie sich wieder verheiratete. Zwanzig Jahre hatten sie für den Brunnen gebraucht, und er war noch immer nicht ganz fertig. Die Steinmetze versprachen ihm, er würde am Ende Wasser hervorbringen.
Als sie ein weiteres Stockwerk hinuntergingen, verstärkten sich die Gesänge und hallten von den Wänden wider.
Wir opfern der dreiäugige Realität,
die alles Leben erblühen lässt.
Wie der Kürbis von der Fessel der Ranke befreit wird,
möge die Seele vom Körper befreit sein im Tod, denn sie ist unsterblich.
Fürchtet nicht den Tod.
Der Gesang beruhigte ihr aufgewühltes Gemüt. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag schließlich kommen würde. Es war ein schrecklicher Eid, den sie abgelegt hatte. Sie war gefangen zwischen dem Wunsch, ihrem Volk Wasser zu bringen, und dem Wunsch, der Brunnen möge unfruchtbar bleiben, so wie sie es ohne ihren Mann zu sein beabsichtigte.
Rubha Devi hatte nicht geglaubt, dass es Sultan Begda, diesem Elenden, gelingen würde. Der Brunnen von Adalaj war sieben Stockwerke tief. Tiefer und schöner als jeder andere. Er ließ sogar die muslimischen Steinmetze töten, als sie sagten, es wäre ihnen möglich, einen zweiten Brunnen dieser Art zu bauen. Die Muster und Wandbemalungen, die jedes Stockwerk zierten, wurden immer feiner, je tiefer sie stieg. Ein Zeugnis der Handwerkskunst dieser Männer.
Während sie tiefer in den Brunnen hinabstiegen, dachte Rubha Devi an ihren Mann. Seine Hände auf ihren Brüsten. Seine weichen Lippen. Die Kraft seiner Arme. Seit er getötet worden war, hatte sie das Gefühl, nur noch ein Teil von ihr wäre am Leben.
Schließlich gelangten sie zur untersten Balustrade.
Sie konnte die Worte des Gesangs nicht mehr verstehen, sie hörte nur noch den Klang, der sie fest umschlossen hielt, wie ihr Mann es getan hatte.
Rubha Devi hob das Schwert. »Jai Devi!«, rief sie ein einziges Mal, ehe sie sich das Messer zwischen die Brüste stieß und in den Brunnen stürzte.
Wasser stieg auf, wo ihr Blut den Sand tränkte, bedeckte ihren Leib und zog sie mit sich in die Erde.
*
Ganga Ba wartete, bis alle ausgestiegen waren, bevor sie aus dem Minibus kletterte. Sie hielt sich mit einer Hand an der Schiebetür fest. Nie hätte sie sich von ihrer Tochter zu dieser Reise überreden lassen sollen.
Dass die Familie zu Besuch kam, war eine Sache. Aber durchs ganze Land zu holpern war
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