Der Klang der Sehnsucht - Roman
vergitterte Busfenster. Ihr Vater und ihr Bruder schienen in eine andere Welt zu gehören. In eine andere Wirklichkeit.
Sie war keine Tochter mehr, sie war Schwiegertochter. Eine Ehefrau. Sie dachte an ihren Mann. Sie nannte ihn nie bei seinem Namen, nicht einmal in Gedanken. Ihr Mann – dieses Wort war das Einzige, das ihre Beziehung zusammenhielt. Jeden Morgen setzte er sich an den Tisch und las die Zeitung vom Vortag, während sie ihm und seinem Vater den Tee brachte. Er schaute niemals auf und wandte sich höchstens an seinen Vater, um die steigenden Benzinpreise und Einfuhrzölle zu kommentieren. Dinge, die er zweifellos am College gelernt hatte.
Dasselbe College, das Raja besucht hatte. Ihr Mann war nur ein paar Jahre älter. Raja war ihm auf den Fluren begegnet und wusste, dass er ein erfolgreicher Student war. »Wenn Raja ihn kennt, und er aus einer guten Familie kommt, dann …« Aber was bedeutete es schon, jemanden zu kennen, mit dem man nicht zusammengelebt hatte.
Vimu Ba brachte Malti bei, die Lieblingsgerichte ihres Sohnes zu kochen, und schwärmte ihren Freundinnen vor, wie gut ihr Sohn sich verheiratet habe. »Sie kommt vielleicht aus einer ärmeren Familie, aber sie ist sehr wohlerzogen. Wir würden sie ja lieber zu Hause behalten, aber die alte Ganga Ba lässt sie einfach nicht gehen. So sehr schätzt sie Maltis Gesellschaft. Natürlich macht sie keine Hausarbeit. Das haben wir abgestellt.«
Malti biss sich auf die Zunge. Sie konnte sich nicht über ihre Schwiegereltern beschweren. Wenn es ihr einmal nicht gutging, schimpfte Vimu Ba, sie schone sich nicht genug, und machte ihr ein Glas Milch mit Gelbwurz, damit es ihr besser ging. Papaji, ihr Schwiegervater, lächelte, wenn sie ihm den Reis servierte. Ihr Mann hingegen verhielt sich, als wäre sie nicht vorhanden.
*
Tulsi saß seitlich von Kalu an der Wand neben dem Bücherregal und lauschte der Musik. Der Guruji hatte das Licht eingeschaltet, um den Mangel an Sonnenschein wettzumachen.
Es war ein stürmischer Tag, und Kalu patzte immer wieder.
»Nein, Junge, so nicht. Du musst dein ganzes Herz hineinlegen. Du machst Fingerübungen, mehr ist das nicht.«
Kalu hörte auf zu spielen und rang nach Luft.
»Sie haben Glück, dass ich überhaupt etwas zustande bringe. Es geht heute einfach nicht.« Seine Finger schmerzten, sein Rücken tat weh, und nichts, was der Guruji sagte, ergab einen Sinn. »Können wir nicht mal rausgehen und uns ein bisschen strecken, bevor es wieder anfängt zu regnen?«
»Tulsi scheint sich hier recht wohl zu fühlen. Du bist derjenige, der sich quält.« Der Guruji drückte sich die Fingerspitzen auf die Augen, bevor er weitersprach. »Komm, wir wollen es noch mal versuchen. Etwas anderes, aber aus demselben Raga, bitte. Tulsis Raga – Raga Yaman.«
Der Guruji hatte den Yaman nie zuvor als Tulsis Raga bezeichnet, aber sie hatte ihn sich tatsächlich zu dem ihren erkoren. Kalu hatte ihn gespielt, als sie das erste Mal an seinem Unterricht teilgenommen hatte. Sie schloss wieder die Augen, lehnte sich an die Kissen neben der Sarod und machte es sich bequem. Kalu wählte eine von seinen neuen Flöten, keine lange, sondern eine kleinere, die einen besonders hellen Klang besaß. Ihre braune Farbe erinnerte Kalu an den kleinen, braunen Vogel, an den er bei Tulsis Anblick oft denken musste.
Kalu hielt den Atem an, ehe er die Flöte an die Lippen setzte. Er würde Tulsis Lied spielen. Er stellte sich vor, wie sie sang und wie sie sprach. Die Liebe ihres Onkels, ihrer Tante und ihrer Großeltern, an die Kraft der Erde, die Tulsi festgehalten hatte, als die anderen starben.
Und während er spielte, ertönte hin und wieder ein leiser, schwacher Ton. Die kleine Tulsi zitterte krampfhaft, ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie merkte nicht, wie der Guruji sie im Arm hielt, während sie dem Klang der Flöte bis weit zurück zu ihrer eigenen Stimme folgte.
*
Tulsi warf Kieselsteine in den Bach und summte leise vor sich hin. Ihr Großvater, der vom Feld nach Hause kam, blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Dann lief er ins Haus, um seine Frau zu rufen. Er sagte ihr nicht, was er gehört hatte, und bat sie nur, ihm rasch zu folgen. Er nahm sie an der Hand und zog sie den Pfad zum Bach hinunter. Sie folgte ihm halb schimpfend, halb lachend, bis er ihr bedeutete, leise zu sein, und sie zu einigen Büschen am Ufer führte.
Die beiden standen im Schatten und lauschten dem süßen Ton. Er klang leise, aber zuversichtlich.
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