Der Klang der Sehnsucht - Roman
ganz etwas anderes. Sie hätte es nie zugegeben, aber die Reise hatte sie stärker mitgenommen als erwartet.
Adalaj ki Vav, der berühmte Stufenbrunnen, lag kaum zwei Stunden von Ahmedabad entfernt. Als ihre Tochter den Fahrer bat, den Umweg zu machen, hielt Ganga Ba sich zurück. Auch als ihre Tochter erklärte, sie wollte den Kindern ihr Erbe zeigen, hatte sie geschwiegen. Doch seit wann war dieser Brunnen, den ein muslimischer König mitten in diese ausgedörrte Landschaft gebaut hatte, weil es ihn nach einer Hindu-Königin gelüstete, Teil ihres Erbes? Das hätte sie gern mal gewusst.
Sie verkniff sich jedoch jeglichen Kommentar, denn sie wollte nicht schon wieder diese gekränkte Miene ihrer Tochter sehen. Seufzend humpelte Ganga Ba auf den Brunnen zu. Bei V. P. hatte sie sich nie auf die Zunge beißen müssen. Sie war nicht daran gewöhnt, im Gegenteil. In Hastinapore war sie berühmt dafür, dass sie immer sagte, was sie dachte.
Die Kinder tobten die engen Treppen in den Vav hinunter, gefolgt von ihren mit Videokamera und Fotoapparat bewaffneten Eltern.
»Vorsicht, Pinku, nicht so schnell. Nicht dass wir noch einen Unfall haben. Kommst du, Ba? Brauchst du Hilfe?«
Ganga Ba winkte ab und bedeutete ihnen, schon vorzugehen. Sie spürte ihre steifen Gelenke sehr. Die schmalen, feuchten Stufen im Brunnen waren nichts für sie. Statt den anderen zu folgen, ging sie an dem kleinen, Devi geweihten Tempel vorbei ans andere Ende des Vav. Von außen erinnerte der Stufenbrunnen eher an die Grundmauern eines Gebäudes, das nie zu Ende gebaut worden war.
Die Hitze milderte den Schmerz in ihren Gelenken. Sie setzte sich, stellte einen Fuß auf eine Steinarbeit am Rand des Vav und blickte ins Freie. Der Himmel war von grauem Smog bedeckt, der sich kaum von der braunen, flachen, leeren Landschaft abhob. Sie sah, dass in der Mitte der Abdeckung des Brunnens ein Loch war. Wäre sie näher herangegangen, hätte sie sicher hinunter auf die zahlreichen Stockwerke des Brunnens schauen können. Dort, wo sie saß, konnte sie die modrige Feuchte des Wassers riechen.
Der Geruch löste eine ferne Erinnerung aus. Sie hörte die Stimme ihrer Schwester, wie vor vielen Jahren, als sie jeden Abend miteinander getuschelt hatten, bis sie einschliefen. Ganga Ba war die lautere, zweite Tochter in einem Haushalt, in dem bereits eine Tochter zu viel war.
Gayatri, wie Ganga Ba früher hieß, trank gern Milch, und ihre Mutter pflegte zu sagen, sie würde die Familie noch um Haus und Hof trinken. Dann kam der Tag, an dem ihre große Schwester sah, wie ihre Mutter ein Pulver in Gayatris Milch schüttete. Ohne etwas zu sagen, goss sie den giftigen Trunk aus und ließ ihn langsam im Boden versickern.
Später zu Beginn der Trockenzeit hatte Gayatris Vater, als die Sonne hoch am Himmel stand und alle – auch ihre ältere Schwester – schliefen, seine kleine Tochter in den Brunnen gestoßen. Sie fiel aber nicht ins Wasser, sondern landete auf einem kleinen Sims einige Meter oberhalb. Zu ihrem Glück hatte ein kleiner Junge sich am Brunnen versteckt, um seinen Mittagsschlaf zu umgehen. Er hörte sie schreien und half ihr heraus.
Vielen Dorfbewohnern erschien dies als wundersame Rettung, und sie kamen, um Gayatri zu bitten, ihre Talismane zu reiben. Nun wagten ihre Eltern es aus Furcht vor den möglichen Konsequenzen nicht mehr, ihr etwas anzutun.
Nie hatte Gayatri den dumpfen Geruch nach feuchtem Gemäuer und tiefem Brunnenwasser vergessen, der sie auch jetzt umgab.
Der ferne Schrei einer Krähe holte Ganga Ba in die Gegenwart zurück. Sie drängte die Stimme ihrer Schwester zurück in die Tiefen der Vergangenheit und erhob sich. Die trockene, unfruchtbare Landschaft hatte sich wohl kaum verändert, seit Rubha Devi den Sultan Begda gezwungen hatte, den Brunnen zu bauen.
Ganga Ba schnaubte. Männer konnten so dämlich sein. Und Frauen auch. Was brachten solche theatralischen Gesten? Das Leben war da, um gelebt zu werden.
Sie machte sich auf den Weg zurück zum Wagen. Die anderen würden sich hoffentlich auch bald einfinden. Vielleicht würden sie sich ja durch die Mauern des Brunnens endlich mit Indien verbunden fühlen und ließen sich überreden, zu einem guten Essen und einem gemütlichen Bett nach Ahmedabad zurückzufahren.
Beim nächsten Mal würde sie es besser wissen. Als höchstes der Gefühle würde sie sich vielleicht auf einem Einkaufstrip einlassen. Allerdings sollte es kein nächstes Mal geben.
*
Kalu sah Malti vom Fluss
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