Der Klang der Sehnsucht - Roman
Grillen zirpten dazu, während das Murmeln des Baches für weitere Begleitung sorgte. Es hörte sich an, als hätte sie schon immer gesungen.
Ihre Großmutter machte eine Bewegung auf Tulsi zu, hielt aber dann inne, aus Furcht, der Traum würde sich in einen Alptraum verwandeln.
Sie zog an ihrer Kette aus den Samen des heiligen Basilikums, das den gleichen Namen trug wie ihre Enkelin – Tulsi. »O Herr, wenn du mich liebst, mach, dass sie weiter singt.« Um Worte zu beten, wagte sie nicht. Noch nicht. Es war noch zu früh.
*
Die letzten Töne verklangen in der nächtlichen Dunkelheit. Nur das Brummen des Generators war noch zu hören. Die Dorfbewohner saßen schweigend im Kreis.
Viele waren aus Neugier gekommen. Sie hatten ihre Kinder von dem Jungen mit der Flöte sprechen hören, der öfter mit ihnen spielte. Alle wussten, dass der Musiker, der ihn adoptiert hatte, einmal sehr berühmt gewesen war, auch wenn er jetzt etwas verrückt schien. Sie hatten gehofft, er würde an dem Konzert teilnehmen. Aber er kam nicht. Nur der Flötenjunge, ein Tabla-Spieler aus einem anderen Dorf, und Tulsi, das stumme Mädchen, waren anwesend.
Tulsis Großeltern veranstalteten das Konzert, um im Anschluss an die Havan – die fünftägigen Dankgebete für das Wunder – zu feiern. Gemeinsam mit Tulsis Onkel und Tante hatten sie Gott für den jungen Flötenspieler gedankt. Sie konnten noch immer kaum fassen, dass ihre kleine Tulsi wieder singen konnte. Auch wenn sie noch nicht sprach, sang sie Tarana – eine Liedart ohne Text. Tulsi vermochte die Töne wiederzugeben und sich in ihnen auszudrücken.
Der Vaid glaubte, Tulsi würde mit der Zeit auch wieder sprechen lernen. Der Umstand, dass sie nicht nur Laute von sich gab, sondern Silben sang, war ein gutes Zeichen.
Tulsis Großeltern traten auf die Bühne und verneigten sich vor Kalu.
»Bitte nicht«, wehrte er verlegen ab. »Sie sollten Tulsi beglückwünschen.«
»Dir verdanken wir es, dass sie wieder eine Stimme hat.«
»Aber ich hatte wirklich nichts damit zu tun. Danken Sie dem Guruji oder Dada.«
Tulsi lächelte über sein Unbehagen und vergrößerte es, indem sie seine Füße berührte und mit derart strahlenden Augen zu ihm aufblickte, dass sie den Mond in den Schatten stellten. Sie überreichte ihm einen zerknitterten Zettel. Heute Abend , stand darauf, warst du mein Guru.
Kalu sah Tulsi an und erkannte, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine junge Frau.
Teil 3
Bol Bandh
Der dritte Teil des Raga bildet den Höhepunkt des Vorangegangenen. Hier hat der Rhythmus Vorrang, die ursprünglichen Melodien werden aufgebrochen und neu gruppiert – jede ist Ausgangspunkt für neue rhythmische und melodische Zyklen. Der Bol Bandh erfordert schnelle und spontane Improvisation. Zusätzlich sorgt das Zusammenspiel der Musiker für eine Atmosphäre von Spontaneität und Kraft. Das Aufeinanderprallen verschiedener musikalischer Welten erzeugt neue Impulse.
Guruji
Kapitel 11
Malti wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Ihr Jutebeutel war voll mit Auberginen und breiten Bohnen, und der Henkel scheuerte an ihrer Handfläche und lenkte Malti einen Moment von der unbarmherzigen Hitze ab.
Wenn es nur endlich regnen würde. Der Mann in Ganga Bas Fernseher sprach seit Tagen davon. Alle anderen schon seit Monaten. Die andauernde Hitze machte fast jeden reizbar.
Malti nahm den Beutel in die andere Hand und wischte die freie an ihrem Sari ab, während sie in Gedanken an den Regen weiter ausschritt. Malti blieb stehen, hielt wie ein Reh die Nase in den Wind und schnupperte. Für einen Moment glaubte sie, durch den Geruch von Diesel und Staub hindurch auch den weichen, feuchten Duft von Regen wahrzunehmen.
Malti erinnerte sich noch an das erste Mal, als sie ihn wahrgenommen hatte. Ein süßer Duft, den sie fast schmecken konnte, hatte sich in ihrer Kehle festgesetzt. Damals glaubte sie, er stamme von einer seltenen Blume, die eine Ähnlichkeit mit Jasmin hatte, aber erdiger, schwerer und zugleich frisch duftete.
Sie ging weiter und atmete so tief ein, dass sie den Geruch nach feuchter Erde deutlich durch den Staub hindurch erkennen konnte, den die wogende Hitze vom Boden aufwirbelte. Sie suchte den Himmel nach Regenwolken ab, denn sie wusste, wie schnell er sich von Blau in Schwarz verwandeln konnte.
Als sie an der Bushaltestelle vorbeikam, fielen die ersten Tropfen. Leute blieben stehen. Die Bettler schauten nach oben und streckten die Hände gen
Weitere Kostenlose Bücher