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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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wohl gedacht haben, einem Ungarn würde es nichts ausmachen, woher wir kamen. Es schien eine beinahe sichere Wahl.
    Diesmal fuhren wir alle zusammen zum Vorsingen, die ganze Familie. Wir hatten einen prachtvollen Hudson gemietet, mit Stromlinienkarosserie. Meine Mutter saß hinten, zusammen mit mir und Ruth. Sie saß immer hinten, wenn wir mit dem Auto fuhren, und Pa saß immer am Steuer. Das sei sicherer für Ruthie, sagten sie. Jonah erklärte mir, sie machten es so, damit die Polizei uns nicht anhielt.
    Jonah hatte Mahlers »Wer hat dies Liedlein erdacht?« vorbereitet, aus Des Knaben Wunderhorn. Mama begleitete ihn und polierte schon Wochen vorher an ihrem Klavierpart, bis er glitzerte. Sie trug ein plissiertes schwarzes Seidenkleid, das die Schultern betonte, und sah damit noch größer und schlanker aus, als sie ohnehin war. Sie war die schönste Frau, die die Preisrichter je in ihrem Leben erblicken würden. János Reményi selbst war einer der drei Prüfer. Vater zeigte ihn uns, als wir in den Saal kamen.
    »Der?«, fragte Jonah. »Der sieht aber überhaupt nicht wie ein Ungar aus!«
    »Und wie sehen Ungarn aus?«
    Jonah zuckte mit den Schultern. »Glatzköpfig irgendwie.«
    Nur eine Hand voll Sänger kam an jenem Tag zum Vorsingen, diejenigen, die es durch die strenge Vorauswahl geschafft hatten. Mr. Reményi rief von seiner Liste den Namen Strom auf. Mama und Jonah gingen den Gang hinunter zur Bühne. Eine Frau trat ihnen entgegen, bevor sie an die Treppe kamen. Sie fragte Mama, wo der Klavierbegleiter
    sei. Meine Mutter holte tief Luft und setzte ein Lächeln auf. »Ich begleite.« Sie klang matt, doch kompetent.
    Der Angriff musste sie aus der Fassung gebracht haben. Sie nahm das Vorspiel schneller als bei den tausend Proben zu Hause. Ich hatte das Lied so viele Male gehört, ich hätte es rückwärts singen können. Aber bei dem Tempo, das Mama jetzt vorgab, hätte ich den Einsatz verpasst. Jonahs Einsatz war natürlich perfekt. Er hatte schließlich ungeduldig gewartet, dass der Höhenflug begann.
    Ich sah, wie die Prüfer sich Blicke zuwarfen, als Jonah sich höher und höher aufschwang. Aber sie ließen ihn zu Ende singen. Noch nicht einmal zwei Minuten, und sein Vortrag war Geschichte. In der Kehle meines Bruders wandelte das Lied sich zum schelmischen Mythos. Es erzählte von einer Welt ohne Mühen, einer schwerelosen Welt. Des Knaben Wunderhorn, endlich einmal von jemandem gesungen, der tatsächlich noch ein Knabe war.
    Eine Prüferin wollte applaudieren, aber ein Blick von Reményi ließ sie mitten in der Handbewegung erstarren. Der Direktor machte sich ein paar Notizen, nahm seine Brille ab, hob die Augenbrauen und sah meinen Bruder an. »Mr. Strom.« Verwirrt blickte ich meinen Vater an. Dessen Augen waren auf Reményi geheftet. »Können Sie mir sagen, was dieses Lied bedeutet?«
    Pa beugte sich vor und pochte immer wieder mit der Stirn an die Lehne der Sitzreihe vor ihm. Auf der Bühne faltete Mama die Hände im Schoß ihres schönen Kleides und betrachtete sie. Wenn Jonah sang, war das Vertrauen meiner Eltern grenzenlos. Aber das gesprochene Wort war nicht ganz so sehr seine Stärke.
    Jonah war gern bereit, diesem Ungarn zu helfen, wenn er etwas nicht verstand. Er blickte hinauf zu den Scheinwerfern, als könnten sie ihn zur Antwort inspirieren. »Na ja ... es fragt danach, wer es geschrieben hat.« Mit einem verlegenen Seufzer schob er den schwarzen Peter dem Dichter zu.
    »Sicher, gewiss. Das ist der Titel. Aber was steht in dem Gedicht?«
    Die Miene meines Bruders hellte sich auf. »Oh! Das meinen Sie! Al-       so ...« Vaters Kopf bewegte sich immer schneller. Die sechsjährige Ruthie auf seiner anderen Seite wurde unruhig und summte vor sich hin. Er ermahnte sie zur Ruhe, etwas, das er sonst nie tat. »Es ist ein Haus in den Bergen«, erklärte Jonah. »Und am Fenster steht ein Mädchen.«
    »Was für ein Mädchen?«
    »Eine Deutsche?«
    Alle drei Richter räusperten sich.
    »Ein geliebtes Mädchen«, sagte Reményi. »Ein fein's lieb's Mädel. Jetzt weiter.«
    »Sie wohnt nicht da. Und dann ist was mit ihrem Mund. Damit kann sie zaubern irgendwie. Tote zum Leben erwecken.« Man konnte in seinen Augen sehen, wie ihn das beschäftigte: Zombies, Vampire, lebende Leichname. »Und da sind noch drei Gänse, die haben das Lied im Schnabel ...«
    »Das genügt.« Reményi wandte sich an meine Mutter. »Sehen Sie? Kein Lied für kleine Jungs.«
    »Aber doch!«, rief mein Vater aus der

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