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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ihr, sprecht ihr etwa Englisch?«, brüllt sie sie an und scheucht sie aus dem Zimmer; dann legt sie die Hände an die Schläfen, damit ihr der Kopf nicht zerspringt.
    Sie holt Strom vom Bahnhof ab. Zeit für sich bleibt ihnen nicht; Nettie Ellen will, dass sie sofort nach Hause kommen und dass sie anrufen, wenn es Ärger gibt. Aber Ärger wird es für sie von jetzt an bis zu ihrem letzten Atemzug geben. Der erste Taxifahrer zeigt ihr den Finger, der zweite fährt wortlos davon. Der dritte, ein Schwarzer, beobachtet Delia die ganze Fahrt über im Rückspiegel und rollt mit den Augen. David merkt von alledem nichts. Wie jede zweite Minute der letzten vier Monate, packt Delia die Panik.
    Sie will ihn noch im Taxi warnen, was ihn zu Hause erwartet. Sie nimmt mehrere Anläufe. Jeder neue klingt hässlicher als der vorherige. »Meine Familie ... ist ein wenig ungewöhnlich.«
    »Das macht doch nichts«, versichert er ihr. »Das ganze Leben ist ungewöhnlich.« Er nimmt ihre Hand, unten unter dem Sitz, wo der Fahrer es nicht sehen kann. Leise pfeift er eine Melodie, nur für ihre Ohren bestimmt, eine, von der er sicher sein kann, dass sie sie erkennt. Fear no danger to ensue, the hero loves as well as you aus Purcells Dido and Aeneas, »Fürcht' nicht Schrecken noch Gefahr, der Held beschützt dich immer-dar«. Die Musik macht ihr Mut, sie lächelt, doch dann fällt ihr wieder ein, wie Didos Geschichte endet.
    Als sie in der Catherine Street ankommen, hat ihre ganze Familie sich in fromme Lämmer verwandelt. Ihr Vater begrüßt den Gast ein wenig weitschweifig, aber er führt ihn sogleich ins Haus. Ihre Brüder strecken ihm zur Begrüßung die Hand entgegen, eher linkisch, aber ohne Varietegesang und ohne Stechschritt. Nur die Zwillinge wirken feindselig. Sie werfen ihrer Schwester enttäuschte Blicke zu. Sie hatten sich diesen Weißen anders vorgestellt, eher wie Tarzan oder Flash Gordon oder vielleicht sogar Dick Tracy. Aber doch nicht so eine grinsende Brillenschlange, wie Dankwart aus dem Blondie-Cartoon, und um den Bauch schon die Ansätze zu einem Rettungsring.
    Nettie Ellen flitzt durch die Wohnung wie ein geölter Blitz, nimmt dem Besucher den Mantel ab, weist ihm einen Platz auf dem guten Wohn-zimmersofa an, umschmeichelt ihn dermaßen, dass er gar nicht mehr weiß, was er sagen soll. »Das ist also der Mann, von dem wir schon so viel gehört haben. Wie schön, Sie kennen zu lernen, Sir! Das ist ja eine bezaubernde Krawatte, die Sie da tragen! Wie gefällt es Ihnen hier? Es ist ja so ein großes Land, nicht wahr? Also, ich würde mich ja gern hersetzen und mit Ihnen plaudern, aber wir haben einen schönen Braten im Ofen, und wenn ich nicht Acht gebe, dann essen wir heute Abend allesamt Kohlen!«
    Nettie Ellen lacht, und David Strom stimmt eine punktierte Achtelnote später ein. Etwas an dieser Verzögerung und an dem wild entschlossenen Ausdruck in seinen Augen verrät es Delia: Er versteht von dem, was ihre Mutter sagt, kein Wort.
    Zum Glück schlägt ihr Vater ins andere Extrem. Da, wo Nettie Ellen den Südstaatenakzent besonders dick auflegt, damit es gemütlich klingt, ist William geradezu kalt in seiner Präzision. Mit großer Geste lässt er seine Tochter neben David auf dem Sofa Platz nehmen. Dann setzt er sich in den Sessel ihnen gegenüber.
    »Na, und wie gefällt Ihnen das Leben im Big Apple, Professor Strom?«
    Jetzt versteht der Besucher jedes einzelne Wort. Aber wenn er sie zusammensetzt, sieht er nur das bizarre Bild einer faulenden Frucht. Delia sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, es ihm unverfänglich zu übersetzen. Aber schon legt ihr Vater nach.
    »Von meiner Tochter höre ich, Sie wohnen nicht weit vom Sugar. Das sind hungrige Zeiten für die Kinder von Harn.«
    David Strom versteht, dass er von Essen spricht, aber darüber hinaus versteht er nichts. Er wirft Delia einen selig verwirrten Blick zu. Aber sie ist ganz mit ihrer eigenen Überraschung beschäftigt, der Überraschung darüber, dass ihr Vater ein altes Gesetz bricht. Bei jedem Mahl, zu dem die Familie sich zusammensetzt, kommt es zur Sprache, aber mit einem Außenstehenden spricht man darüber nie. Und hier bringt er gleich als Allererstes das private Thema auf. Delia sitzt schweigend dabei, wartet, dass der Nebel sich lichtet, doch als das geschieht, ist es längst zu spät, ihren Gast noch zu retten.
    »Die Zeiten sind ja überall schlecht, wie man hört. Aber wieder einmal müssen unsere Leute die größte Last tragen. Jeder

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