Der Klang der Zeit
Zweite arbeitslos. Verstehen Sie mich nicht falsch.« Da, das weiß Delia, braucht er sich keine Sorgen zu machen. »Ich bin kein Kommunist. Eher neige ich in diesen Dingen zu Mr. Randolphs Ansichten. Aber wenn die Hälfte des eigenen Volks keinen Topf mehr auf den Tisch stellen kann, dann hat man doch allmählich Verständnis für die Plünderer, finden Sie nicht auch? Wo genau wohnen Sie, Mr. Strom?«
Davids Miene hellt sich auf. »New York. Eine wunderbare Stadt.«
William wirft seiner Tochter einen Blick zu. Delia überlegt, ob sie sich entschuldigen und irgendwo in aller Stille erhängen soll. Ihr Vater studiert das Ausmaß der Katastrophe. Es ist einfacher, das sinkende Schiff zu verlassen und auf einem anderen Kahn neu auszufahren. »Was sagen denn Ihre Leute zu Hause über diesen so genannten Nichtangriffspakt?«
»Ich ... bin mir nicht ganz sicher, ob ich Sie ...«
»Zwischen Mr. Hitler und Mr. Stalin.«
Stroms Ausdruck verfinstert sich, und eine kurze Weile lang sind er und Dr. Daley auf einer Wellenlänge. Nach Rassenfragen und Politik werden sie, da ist Delia sich sicher, weiterziehen zur dritten großen Arena: dem Sport. Sie gibt den beiden unsportlichsten Menschen, die sie kennt, fünf Minuten, bis sie die Berliner Olympiade erreicht haben. Es dauert nur drei. Beide möchten, wenn auch aus verschiedenen Gründen, den Boden küssen, über den Jesse Owens sprintet. Wider alle Vernunft beginnt sie zu hoffen, dass die beiden Männer doch genug Gemeinsames finden, ein kleines Stückchen Erde, auf dem auch sie leben kann.
Ihre Mutter ruft aus der Küche. Delia wittert sofort, dass Absicht dahinter steckt. »Versuch mal diese Soße«, sagt Nettie Ellen. »Irgendwas fehlt da, aber ich komme einfach nicht drauf!«
Nach einer endlosen Reihe von Vorschlägen gestattet die Mutter der Tochter den Schluss, dass überhaupt nichts fehlt, dass die Soße perfekt ist. Dann entlässt Nettie sie wieder ins Wohnzimmer, zu dem Blutbad, das das Kreuzverhör inzwischen womöglich angerichtet hat. Aber wenn die beiden Männer ein heikles Thema diskutiert haben, das ihre Abwesenheit erforderte, ist nichts davon zu merken. Ihr Vater fragt den Mann, den sie – nun, sagen wir, liebt: »Kennen Sie den Odysseus von James Joyce?«
Der Physiker antwortet: »Nicht von Homer?«
Eilig zieht Delia sich wieder in die Küche zurück. Je schneller das Essen auf dem Tisch steht, desto schneller ist auch die Folter zu Ende. Sie ist unterwegs ins mütterliche Reich, da kommt sie darauf: Die Monumente weißer Kultur, die ihr Vater sich eins nach dem anderen vornimmt, sind keine Pilgerstätten, sondern Bunker, strategische Posten im zähen Kampf gegen eine fremde Macht, die nicht die geringste Ahnung hat, worum es in dem Kampf überhaupt geht.
Als sie zur Küchentür hereinkommt, wartet schon die nächste Katastrophe. Ihre Mutter steht am Herd und weint. Charles winkt Delia heran, um den Schaden zu begutachten. Als sie näher kommt, sieht er sie an. »Wieso hast du nicht daran gedacht?«
»Woran?«
Nettie Ellen schlägt mit dem hölzernen Kochlöffel an den Rand des Kochtopfes. »Keiner hat mir das gesagt. Keiner hat mir gesagt, dass ich das nicht darf.«
»Also hör mal, Mama«, stichelt Charles weiter. »Du weißt, dass die Juden kein Schweinefleisch essen. Das steht doch überall in der Bibel.«
»Nicht in meiner Bibel.« Was immer sie an Provokation in die Töpfe gerührt haben mag, diese hier war nicht vorgesehen.
»Du hättest es ihr sagen müssen«, schilt Charles seine Schwester. »Wieso hast du ihr das nicht gesagt?«
Delia steht da, am Boden zerstört. Sie weiß nicht das Geringste über den Mann, den sie hierher geschleppt hat. Er isst kein Schweinefleisch: Kann das sein ? Was sie Woche für Woche am Leben hält, ein Gift für ihn. Was mag es noch geben? Der Mann, den sie mit nach Hause gebracht hat, ist wie ein Labyrinth, die seltsamen Gerüche, die Rituale hinter verschlossenen Türen sind ihr fremd, das ganze Leben, das sie nie gut genug kennen wird, die Käppchen, die Locken, die silbergefassten Bilder an den Türstürzen, die Buchstaben, die von rechts nach links fließen, fünftausend Jahre alte Gebräuche, die vom Vater auf den Sohn weitergereicht werden, Geheimzeichen, Kabbala, alles nur dazu da, sie einzuschüchtern, sie auszuschließen. Wie weit kann sie ihr Leben ändern? Wie weit will sie das? Der Vogel und der Fisch mögen sich verlieben, aber sie haben keine Sprache gemeinsam, in der das Wort Nest auch nur
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