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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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eine Künstlerin.«
    Nettie Ellen schüttelt den Kopf, verwirrt von einem Rätsel, das so groß ist wie die Welt, in die sie geboren ist. »Na, wir haben das Klavier ja auch nicht umsonst hier stehen. Ihr zwei setzt euch und macht ein wenig Musik für uns, und die Mädels und ich waschen ab.«
    »Wir machen den Abwasch, Mama«, wendet Delia ein. »Du hast gekocht, da hast du dir die Ruhe verdient.«
    »Unsinn. Ein jeglicher diene Gott auf seine Weise.«
    Sie besteht darauf. Also setzen die beiden Musikanten sich ans Klavier, Liebhaber beide, jeder auf seiner Hälfte der Bank, sittsam darauf bedacht, dass sie sich nicht berühren. Sie spielen aus Netties Gesangbuch, »He Leadeth Me«, der Herr führet mich, den alten Psalm, schwerfällig für vier Hände bearbeitet, SATB, unverändert vom Blatt, bis David sich in die musikalische Sprache hineingedacht hat. Je mehr Delia sich für die ererbte Melodie erwärmt, desto weiter drängt sie ihn in die tiefen Regionen der Klaviatur ab, übernimmt zuerst den Tenor, dann den Bass, dann immer mehr Stimmen, von denen Strom gar nicht gesehen hatte, dass sie sich in den Noten versteckten. Dann legt sie richtig los, heizt das Tempo an, fügt Verzierungen hinzu, ein Crescendo, das – das begreift sie, noch während sie sich zum hemmungslosen Gospelton aufschwingt – zugleich eine Prüfung ist: Bist du dir sicher? Sie will herausbekommen, wie er sie sieht, und, das gibt sie gern zu, sie will auch sehen, ob er sie tragen kann, wenn sie die Flügel ausbreitet und fliegt.
    Ihr Vater wandert durchs Zimmer, tut, als suche er nach etwas. Einmal, könnte Delia schwören, hört sie, wie er mitsummt. Vielleicht kam ja doch noch etwas Gutes heraus bei dieser wahnsinnigen Unternehmung. Vielleicht konnten sie ein Amerika bauen, das amerikanischer war als alles, was dieses Land seit Jahrhunderten vorgab zu sein.
    Ihre Mutter kommt aus der Küche, Spültuch in der Hand, ihr bestes Sonntagskleid von zwei Schürzen geschützt. »Das hört sich ja wunderbar an.« Delia hört: Den Klang kenne ich. Das da, das ist meine Tochter.
    Als sie das Kirchenlied zurück in die seligen Gefilde geleiten, tasten sie sich an eine gemeinsame Schlusskadenz heran, und dann blicken sie sich an. David Strom strahlt wie ein Leuchtturm, und sie weiß, er würde sie dort und auf der Stelle bitten, sämtliche Zeit mit ihm zu teilen, wäre da nicht die Warnung, die in ihren Zügen geschrieben steht.
    »Kennst du das hier?«, fragt er. Und mit einfachen, doch musikalischen Linien umreißt er ein Lied, das sie in ihren ersten Studienjahren gelernt hat, eine Melodie, so einfach, dass sie zu den schwierigsten gehört, die sie je gesungen hat. Seine Finger machen einen kurzen Probelauf, deuten nur die Bassfiguren an.
    »Du kennst es auch?« Schon im nächsten Moment schämt sie sich für die Frage. Warum sollten sie die Melodie nicht gemeinsam haben? Keine Rasse, keine Gesellschaft war so stark, dass sie ein Stück Musik ganz für sich beanspruchen konnte.
    Er ist am Ende der ersten Phrase angelangt. Ohne ein Zeichen kehren sie wieder zum Anfang zurück. Auf den Punkt trifft sie in ihrem Sprung die erste Note, denn sie weiß, dass er das Sprungtuch für sie aufhält. Sie singt ganz ohne Bruststimme. Seine Finger auf den Tasten finden Sicherheit im Licht ihres Gesangs. Sie imitiert die reinen Klangkörper, die vollkommene Messing- oder Holzröhre. Ihr Vibrato wird so eng, es würde durch das Nadelöhr des Himmels passen. Sie schwebt dahin in luftigem piano, nichts regt sich außer der Bewegung der Melodie.
     
    Bist du bei mir, geh ich mit Freuden
    Zum Sterben und zu meiner Ruh.
    Ach, wie vergnügt war so mein Ende,
    Es drückten deine lieben Hände Mir die getreuen Augen zu!
     
    Gemeinsam kehren sie wieder zur Tonika zurück, verharren in langer Stille, in dem, worauf jede Partitur hinausläuft. Aber bevor die Stille selbst verklingt, mischt sich eine dritte Stimme hinein. Bruder Charles sitzt auf der Sofalehne, seinem improvisierten Balkon, und schüttelt bewundernd den Kopf.
    »Ist das nicht das Lied, das die Weißen immer gesungen haben, nach Feierabend, wenn sie uns den ganzen Tag lang geschunden hatten?« »Halt den Mund«, sagte Delia, »sonst schinde ich dich.« »Wie weit willst du dich noch treiben lassen, Schwesterherz?« »Ich treibe nicht, mein Lieber. Ich rudere und bin auf Kurs.« Charlie nickt. »Wenn du am anderen Ufer ankommst, meinst du, die fischen dich aus dem Wasser?«
    »Mich muss keiner aus dem Wasser

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