Der Klang der Zeit
annähernd vorkommt.
Dann hört sie seine Stimme aus dem Wohnzimmer. David. Ihr David. Wir sind nicht von Anfang an miteinander vertraut. Im besten Falle wartet die Vertrautheit auf uns, lässt sich erlangen im Laufe der Jahre. Nur durch das Leben kann er ihr vertraut werden. Und doch kennt sie ihn schon, wenn sie ihn nur ansieht.
Es wird Beklommenheit zwischen ihnen geben. Sie werden auf Dinge stoßen, in denen sie sich noch viel fremder sind, auf Abgründe, die sie nicht überbrücken können. Aber wenigstens dies hier, das ist keine tödliche Krise. Sie streicht ihrer Mutter über den Rücken, gerade in der Mitte zwischen den beiden zerbrechlichen Schulterblättern. »Halb so schlimm, Mama.« Verschwörerisch und doch offen, aufmunternd, doch insgeheim Sabotage: Alles ist gut. Die Soße wird dem Mann mehr zusetzen als die Herkunft des Fleisches. Aber das Essen ist und bleibt ein Geschenk, gehüllt in die Düfte des unverdaulich anderen. »Halb so schlimm«, sagt sie noch einmal, tröstet sie, streichelt sie. »Weißt du, diese Wissenschaftlertypen. Die essen einfach alles.«
So viel wird immer klar sein: Das zumindest können sie nicht missverstehen. Sie und der Mann – beide Nationen innerhalb von Nationen. Vielleicht haben sie nichts anderes gemeinsam, nur dies und die Musik. Aber schon jetzt ist das genug. Schon jetzt haben sie diese Idee gemeinsam probiert. Und dies Gedankenspiel wird nun selbst zur Tatsache, nicht mehr aus der Welt zu schaffen: eine Nation innerhalb einer Nation innerhalb einer Nation.
Beim Abendessen läuft David zu Hochform auf. Binnen unnatürlich kurzer Zeit hat er so viel vom lokalen Dialekt gelernt, dass er jedem Daley folgen kann oder zumindest so tun als ob. Schon kann er die Scherze ihres Vaters von seinen Orakelsprüchen unterscheiden. Atemlos lauscht Charles der Geschichte von seiner Flucht aus Wien. Auch die Zwillinge sind fasziniert, sie können gar nicht genug von der Art bekommen, wie er mit Messer und Gabel isst, wie er beide immer gleichzeitig in der Hand hat, säbelt und spießt zur gleichen Zeit und nie eins von beiden ablegt. Er isst mit solchem Gusto, dass alle Zweifel ihrer Mutter bald zerstreut sind.
»Ein ganz erstaunliches Gericht«, sagt David und weist mit dem Messer auf das Schweinefleisch. »Nie im Leben habe ich so etwas geschmeckt!«
Es hätte nicht viel gefehlt, und Delia hätte einen Mund voll davon über den ganzen Tisch geprustet. Sie verschluckt sich, ringt um Atem, Hände in der Luft. David ist schon auf den Beinen, bevor die anderen reagieren, klopft ihr auf den Rücken, rettet sie. Der simple Akt der Berührung, selbst in diesem Notfall, lässt alle erstarren. Er hat sie angefasst. Aber David Strom ist auch der Erste, der sich wieder dem Sakrament des Essens widmet, als sei nichts geschehen, als sei nicht gerade an diesem Tisch jemand beinahe erstickt.
Delia überlebt das Mahl. Wie von ferne hört sie ihre Familie beim Tischgespräch, eine Musik, die sie nie gehört hat, als sie noch selbst dabei war. Heute ist dieser siebenköpfige Chor gedämpft und doch kräftig. Sie hört sie in ihrem Versteck, hört, wie sie zusammenhalten in diesem Land, das sie am liebsten allesamt tot sähe. Ihre Schwärze klebt an ihr wie ein zu enges Hemd, etwas, das sie noch nie bemerkt hat, so fest umhüllt es sie. Wie muss sie aussehen in den Augen dieses Mannes?
Aber das Abendessen verläuft besser, als sie hoffen konnte. Entspannung wäre zu viel verlangt gewesen. Doch zumindest geht es ohne Blutvergießen ab. Alle geben sich dermaßen Mühe, dass Delia es kaum mit ansehen kann. Nie hätte sie den Zusammenprall dieser beiden halben Welten überstanden, wäre da nicht die Erinnerung an den verirrten Jungen gewesen, an ihren Ode. Ohne die Gnade der Worte, die sie auf den Stufen des Denkmals gewechselt hatten, ohne diesen Blick in die Zukunft, brächte dies gemeinsame Mahl sie um.
Nach dem Abräumen führt David zu Michaels Freude Kunststücke mit Münzen vor. Er zeigt dem Jungen, wie man sich einen Löffel an die Nase hängt. Er improvisiert einen cartesianischen Taucher, ein Schauspiel, das selbst Charles und die Zwillinge beeindruckt.
Nettie Ellen tut ihr Bestes: alles, was ihre Religion von ihr verlangt. »Und Sie selbst sind ebenfalls Musiker, Mr. Strom?«
»Oh nein! Kein echter. Nur ein – wie sagt man? – Liebhaber.«
»Er ist ein gutes Stück mehr als das«, sagt Delia.
Der Liebhaber protestiert. »Mit Ihrer Tochter kann ich es nicht aufnehmen. Die ist
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