Der Klang der Zeit
Sie kann ihrem Vater nicht erklären, was sie sich selbst nicht erklären kann. Wo in aller Teufel Namen hat sie diesen Mann kennen gelernt? Sie weiß es nicht.
»Es war ... auf einem Konzert, Daddy.«
»Und wie kam es, dass du das Offensichtliche übersahst?«
Sie stellt sich dumm. »Wir lieben dieselben Dinge.« Auch das eine Lüge, wenn auch aus reiner Wahrheit gemacht.
»Ach! Und wem gehören diese Dinge?«
»Es ist Musik, Daddy. Die gehört niemandem.«
»Nicht? Und wenn du hungrig bist, dann isst du Musik?«
»Er ist Professor an einer der angesehensten –«
»Die Musik schützt euch, wenn sie mit Steinen nach euch werfen? Willst du ihnen etwas vorsingen, wenn sie dich aufknüpfen?«
Sie senkt den Kopf. Die Verachtung der Welt kann sie ertragen. Aber schon der kleinste Zorn dieses Mannes bringt sie um.
Ihr Vater stützt sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Lehnen des roten Ledersessels. Seine rechte Hand befühlt den ersten kahlen Fleck in seinem kurz geschnittenen Haar. Er lehnt sich in seinem Sessel zurück. Sie kennt dieses Zögern, seine letzte Verteidigungslinie, wenn das Einzige, was man gegen die Bitterkeit noch tun kann, ist, sie beim Namen zu nennen. Er blickt sie an mit einer Dumpfheit, die schlimmer ist als aller Zorn.
Sie tut ihm weh, schlägt ihm eine Wunde, die nicht verheilen wird, tiefer als jeder Hass. Niederlage steht in den in weite Ferne blickenden Augen. Was das berühmte Konservatorium von Philadelphia ihr seinerzeit antat, ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den sie ihm jetzt bereitet. Und was noch schlimmer ist: Im Erwachsenwerden hat sie seine eigenen Worte gegen ihn gewandt.
William Daley hält sich die Hand vor Augen und dreht sie – betrachtet den Rücken, dann die Handfläche. Dreht sie noch einmal. Verschränkt die Finger, fast wie zum Gebet. »Meinst du, dein kunstsinniger Physiker fühlt sich wohl, wenn er eine Negerin nach Hause bringt?«
Ihr kunstsinniger Physiker hat sich noch nie im Gravitationsfeld der Erde wohl gefühlt. »Er sieht die Hautfarbe gar nicht, Daddy.«
»Dann sollte er zum Optiker gehen. Ich bin praktischer Arzt. Für Sehhilfen bin ich nicht zuständig.« Er erhebt sich und geht hinaus. Das erste Mal im Leben, dass er sie so stehen lässt.
Sie arrangiert eine Einladung zum Essen drei Wochen später. Drei Wochen: lang genug für alle Beteiligten, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Am Vorabend schleichen ihre Eltern durchs Haus, gramgebeugt, angespannt. Schon Stunden, bevor David Stroms Zug ankommt, haben sie ihre guten Sachen an.
»Er ... er achtet nicht sonderlich auf Kleidung«, versucht Delia ihnen zu sagen. Aber es hilft nichts. Nettie Ellen bindet sich zwei Schürzen über ihr Sonntagskleid, eine vorn, eine hinten. Dann geht es zurück in die Küche, wo sie schon den ganzen Tag lang Köstlichkeiten aus dem alten Familienrezeptbuch brutzelt: Schweinefleisch, Gemüse, scharfe Soßen aus längst vergangenen Zeiten in Carolina.
Bruder Michael rümpft die Nase. »Was soll denn das werden? Wird das etwa jüdisches Essen ?«
In der Tat ist es ein Mahl, wie William Daley es nicht oft an seiner Tafel duldet. Doch heute ist der Arzt aus Philadelphia selbst in der Küche dabei, würzt und mariniert an der Seite seiner Gefährtin. Und dies eine Mal scheucht sie den Gatten nicht davon.
Charles lugt in die Fleischtöpfe. »Volles Rohr für den Burschen, was?«
Seine Mutter holt zum Schlag aus, aber er duckt sich. Charles legt seiner Schwester den Arm um die Schulter, halb Trost, halb Folter. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich vor dem Essen ein wenig Banjo spiele?«
»Oh ja.« Michael ist gleich dabei. »Minstrelshow mit Charlie Charcoal.«
Delias Schlag sitzt. »Deine Minstrels brauchen wir hier so dringend wie die Pest. Und wenn du ihn Charcoal nennst, solange Mr. Strom hier ist, wirst du verschnürt und kommst in die Wäschetruhe.«
»Warum kann er mich denn nicht Charcoal nennen? Das tun doch alle.«
Nettie Ellen zeigt mit dem Kochlöffel auf ihren ältesten Sohn. »Du heißt, wie es auf deiner Geburtsurkunde steht!«
»Sag du es ihm, Mama.« Delia versucht Michael einen weiteren Hieb zu versetzen, aber er steht gerade außer Reichweite, zieht sie mit einem leisen Char- coal, Char- coal auf. Sie macht einen Schritt auf ihn zu, droht ihm.
Michael stürmt davon. »Achtung, Achtung! Die Deutschen kommen!«
Lucille und Lorene folgen Delia, wohin sie auch geht. »Ist er groß? Was hat er für Haare? Spricht er Englisch?«
»Und
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