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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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redest du da ? Er hat die Sklaven befreit.                                      
    Hat er nicht!
    Delia sah den Mann an, den Weißen, der sich verzweifelt bemühte zu verstehen. Das Hände haltende Trio ging weiter in Richtung Denkmal, zu dem, das ihnen am nächsten lag, vorbei an der provisorischen Bühne, dann hinauf zu den massigen Marmorblöcken. Und das muss wohl die Stelle gewesen sein, an der sie dann seitwärts durch ein Loch in der Zeit stürzten, ein physikalisches Zauberkunststück des Wissenschaftlers, die schwarze Magie der Labors, undurchschaubar für eine einfache Musikstudentin. Die Zeit dehnte sich und nahm sie mit. Sie stiegen so weit zu der gewaltigen sitzenden Statue empor, wie es in der immer noch dichten Menschenmenge möglich war. Sie errichteten einen Spähposten auf den weißen Marmorstufen, der Junge ganz oben, wo er, selbst weithin sichtbar, Ausschau halten konnte bis zum Horizont.
    Dort oben gerieten sie in den Sog jenes Unmöglich, einen Sog, dem sich nicht einmal die Zeit zu entziehen vermochte. Delia spürte nicht die Veränderung, die mit ihrer Uhr vor sich ging. Sie redeten – Minuten, Stunden, Jahre –, aber nicht mehr über Musik. Mit Worten umkreisten sie das Unmögliche, in einer improvisierten Geheimsprache, damit der Junge sie nicht verstand. Aber der Junge verstand, besser als sie selbst. Der Junge und der Mann saßen auf den Marmorstufen und unterhielten sich über die Planeten, die Sterne, die Gesetze des expandierenden Universums. Der Anblick der beiden gebeugten Gestalten besiegelte ihr Schicksal. Und als der verirrte Junge aufsprang und zu rufen begann, als der Klang seiner Stimme die Zeit wieder in Gang setzte, war mehr als ein Leben vergangen.
    Der Junge sah seinen Bruder, bevor der Bruder ihn sah. Dann war Ode schon unterwegs, die Botschaft dieses Tages, unleugbar. Delia und David riefen ihm nach, aber er war jetzt in Sicherheit, außer Reichweite für sie. Sie gingen bis an den Rand des Denkmals, reckten die Hälse, um zu sehen, wie das Kind seine Familie wieder fand, aber in der Menge verloren sie ihn aus den Augen, verpassten das Wiedersehen. Sie standen auf den weißen Stufen, verlassen, ohne Dank und ohne die Gewiss–heit, dass alles gut würde.
    Dann waren sie allein, nur noch sie beide. Delia konnte ihn nicht ansehen. Sie wagte nicht nachzuschauen, ob sich die flüchtige Zukunft, die sie gerade durchlebt hatte, auch auf seinem Gesicht widerspiegelte. Schon schlössen sich die Tore zu diesem Ort, und sie hatte nicht den Mut, ihn erneut zu suchen. Sie spürte, dass er sie ansah und wandte die Augen ab.
    Es ist schon spät –, sagte Delia. Ich muss zurück, sonst bekomme ich was zu hören.
    Und das ist nicht gut?
    Nein, das ist gar nicht gut. Sie sah auf die Uhr. Mein Gott. Das ist doch nicht möglich!
    Sie schüttelte ihre Uhr, drückte sie ans Ohr, um zu hören, was sie nicht hörte. Sie hatten nicht mehr als fünfzehn Minuten mit dem Kind zugebracht, von der ersten Begegnung bis zu dem Wiedersehen mit seiner Familie. Ihr war es vorgekommen wie Stunden. Sie hatte diese Stunden in ihrem Körper gespürt. Allein auf den Stufen des Denkmals hatten sie viel länger ausgeharrt.
    Ja, sagte er wie aus weiter Ferne. So etwas kommt manchmal vor.
    Aber wie? Sie sah zu ihm auf, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Ja, ihm war es ebenso ergangen. Die Spuren dieser langen Reise. Sie waren immer noch zu sehen. Unabhängige Beweise.
    Er kehrte die Handflächen nach oben. Wir Physiker sprechen von Zeitdehnung. Krümmung. Dirac spricht sogar von zwei verschiedenen Zeitmaßen. Aber das hier – er senkte den Kopf, die zerbrechliche Fracht – ist eher ein psychologisches Phänomen.
    Mein Gott, ich kann es nicht glauben.
    Er lachte leise, ebenfalls verwundert. Da es früher ist als Sie dachten, könnten wir vielleicht noch irgendwo einen Kaffee trinken.
    Tut mir Leid. Das ist die erste der vielen Unmöglichkeiten.
    Sie stiegen die letzten paar Stufen hinunter, jeder Schritt schwerer als der Schritt davor, gemeinsam vertrieben von dem verlorenen Ort.
    Verzeihung, sagte sie ein drittes und letztes Mal. Ich muss nach Hause.
    Wo ist Ihr Zuhause? Ihr Nest?
    Bei diesem Wort, der Erinnerung daran, wo sie gewesen waren, schoss ihr wieder das Blut ins Gesicht. Zu Hause ist da, wohin ich zurück muss.
    Zu Hause ist da, wohin sie ihn jetzt bringen muss, wenn sie am Leben bleiben will.
    Dass sie es bis hierher geschafft haben, ist ja schon ein Wunder.

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