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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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weiß, Kleiner, sagte sie. Wir suchen ihn einfach zusammen.
    Es dauerte ein Weilchen, bis sich der Junge beruhigt hatte. Schließlich legte sich die Panik, und er schilderte ihnen ohne allzu große Wider-sprüche, wie sich die Katastrophe zugetragen hatte. Aber die Offenheit des Ortes und die sich zerstreuende Menge verwirrte ihn. Wir waren da drüben!, rief er. Doch als sie in die Nähe der bezeichneten Stelle kamen, verflog die Freude. Nein, hier war es nicht.
    Delia sorgte dafür, dass er weiterredete, ein Mittel gegen die Angst. Sie fasste seine Hand, und der Junge ergriff sie mit kindlicher Treuherzigkeit, als hätte er sie schon sein Lebtag gehalten. Wie heißt du ?, wollte sie wissen.
    Ode.
    Jody?
    Ode.
    Ehrlich! Sie versuchte, nicht zu überrascht zu klingen.
    Das heißt, dass ich auf der Straße zur Welt gekommen bin.
    Woher kommt denn der Name?
    Er zuckte mit den Schultern. Von meinem Onkel.
    Sie gingen den Weg an der spiegelnden Wasserfläche entlang zurück. Die Entfernung täuschte Ode, und er korrigierte seine Landkarte alle fünfzig Schritte, wenn sich die Landschaft vor seinen Augen veränderte. Aber mit jeder Minute, die die drei zusammengingen, nahm seine Angst um eine weitere Stunde ab. Der weiße Mann faszinierte ihn. Wieder und wieder warf Ode David Strom verstohlene Blicke zu, und Delia fügte jedem dieser Diebstähle einen weiteren hinzu. Sie beobachtete, wie das Kind sich mühte, den Mann einzuordnen. Jedes Mal, wenn der Deutsche sprach, stürzte es den Jungen in Verwirrung.
    Wo kommst du her?, fragte er.
    New York, antwortete Strom.
    Ode strahlte. New York? Meine Mama ist auch aus New York. Kennst du meine Mama ?
    Ich wohne noch nicht lange da, sagte Strom entschuldigend.
    Delia nahm Deckung hinter einem kunstvollen Hustenanfall. Ode grinste, machte sich gern zur Zielscheibe ihres Humors. Er blickte auf zu dem weißen Mann. Du musst dir das von ihr nicht gefallen lassen, weißt du ? Ein Satz, den er irgendwo von einem Erwachsenen aufgeschnappt hatte.
    Strom lächelte schüchtern zurück. Ich weiß, ich weiß!
    Ohne zu überlegen, fasste der Junge mit seiner freien Hand die Hand des Mannes. So gingen sie, zwei erregte Erwachsene und dazwischen ein verängstigtes Kind.
    Ode war so aufgedreht, dass Delia ihn bremsen musste, damit er vor lauter Plappern das Suchen nicht ganz vergaß. Sie verstand höchstens die Hälfte von dem aufgeregten Wortschwall des Jungen. So kreuzten sie auf der Mall hin und her, ein Schiff bei Flaute.
    Ich würde Sie sehr gern wiedersehen, sagte David Strom über Odes Kopf hinweg. Aus seiner bebenden Stimme sprach eine ganz eigene Angst. Durch den Körper des Jungen hindurch spürte Delia, wie der Mann zitterte von der Kälte seines selbst gemachten Winters.
    Er wusste es nicht. Er konnte es nicht wissen. Verzeihung, sagte sie. Unverzeihlich: Schon zum zweiten Mal an diesem Nachmittag. Es ist unmöglich.
    Sie wanderten unter der Säulenkolonnade der Bäume in diesem gewaltigen Kirchenschiff, das kein Dach je überspannen konnte. Ihr Unmöglich ließ die Luft um sie her erstarren. Jeder Schritt schwerer als der Schritt davor. Sie konnte es ihm nicht erklären. Sie wollte ihm nicht klarmachen, dass es unmöglich war, weder jetzt noch später.
    Was immer das Wort für einen Physiker bedeuten mochte, der Physiker hüllte sich in Schweigen. David Strom zeigte auf das quaderför-mige Denkmal. Die Zahl der Menschen, die sich nicht von dem Ort losreißen konnte, wo Miss Anderson ihr Wunder vollbracht hatte, war mittlerweile kleiner geworden. Da müssen wir hingehen. Von da können wir alle sehen und sind für alle sichtbar. An der Statue von dem Mann dort.
    Delia lachte erneut, der Druck nahm ihr fast den Atem. Ode lachte ebenfalls; gemeinsam lachten sie über diesen Fremden. Weißt du nicht, dass das Lincoln ist? Der Kopf des Jungen machte eine Vierteldrehung zur Seite. Sag mal, von welchem Planeten kommst du eigentlich ?
    Ah, sagte Strom und setzte die Puzzleteile der amerikanischen Geschichte zusammen.
    Lincoln war ein Niggerhasser, erklärte der Junge.
    Strom sah Delia Daley an. Ein Rassist?, fragte er auf Deutsch. Delia nickte und schüttelte den Kopf zugleich. Der Deutsche blickte hinauf zu dem Denkmal. Verblüfft. Was konnte ein Land dazu bewegen, ein Denkmal für einen ...?
    Genau, ein Rassist.
    Nein, das war er nicht!, schimpfte Delia. Wer hat dir denn den Blödsinn beigebracht?
    Na, das weiß doch jeder.                               
    Was

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