Der Klang der Zeit
springt in die Bresche: »Der Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit, organisiert von A. Philip Randolph –«
»Verstehe«, sagt Jonah. »Und weiß einer von euch auch, für wann diese Veranstaltung geplant ist?«
Pas Stimmung hellt sich wieder auf. »Wir fahren am Achtundzwanzigsten. Ihr kommt schon am Abend vorher und schlaft hier, damit wir gleich in der Frühe den Bus von Columbia nehmen können.«
Jonah wirft mir einen Blick zu. Ich bestätige es ihm. »Geht nicht, Pa.«
Noch nie habe ich meinen Vater, der vor keinem kosmischen Rätsel zurückschreckt, so verwirrt gesehen. »Was heißt das?«
»Sie sind anderweitig beschäftigt«, spottet Ruth.
»Wir haben einen Termin«, erwidert Jonah.
»Ein Konzert? Aber auf der Liste, die ihr mir gegeben habt, steht für den Achtundzwanzigsten kein Konzert.«
»Es ist kein richtiges Konzert. Eine musikalische Verpflichtung.«
Pa runzelt die Stirn. Er sieht aus wie die berühmte Beethovenbüste, nur zorniger. »Was für eine Verpflichtung?«
Jonah sagt es ihm nicht. Ich könnte mich absetzen und sagen, dass ich keine Verpflichtung habe. Dass ich mit für Arbeit und Freiheit marschiere. Der Augenblick dauert eine Ewigkeit; ich bin hin- und hergerissen. Dann ist es zu spät, und ich habe meine Chance verpasst.
»Ihr solltet diese musikalische Verpflichtung absagen. Ihr solltet mit uns nach Washington fahren.«
»Warum?«, fragt Jonah, »Ich verstehe das nicht.«
»Was gibt's da zu verstehen?«, fragt Ruthie. »Alle fahren.«
»Es geht um Bürgerrechte«, erläutert Pa. »Das betrifft euch.«
»Mich?« Jonah zeigt auf seine Brust. »Wieso?« Er will Pa mit aller Gewalt dazu bringen, dass er etwas ausspricht, was er sein Lebtag nie zugegeben hat.
»Dieser Marsch ist wichtig und richtig. Ich gehe. Eure Schwester geht.« Ruth dreht an ihrem Fünfundzwanzig-Cent-Button für den Freiheitsmarsch, als hätte er sie eines Verbrechens beschuldigt.
»Pa!«, sagt Jonah. Ich stehe auf und räume das Geschirr zusammen. »Interessierst du dich jetzt auf deine alten Tage noch für Politik?«
Pa sieht an uns vorbei, sein Blick reicht ein Vierteljahrhundert zurück. »Das hat nichts mit Politik zu tun.«
»Und alt ist euer Vater auch nicht«, fügt Mrs. Samuels hinzu.
Ruth funkelt die Frau an. »Was habt ihr eigentlich gegen Politik?«
Eine Woche nach dem katastrophalen Essen kommt Jonah spät von Lisette Soer zurück. Etwas stimmt nicht. Er steht schwankend im Türrahmen. Anfangs glaube ich, er hat ihr gesagt, dass wir nun doch nicht zu ihrer kleinen Soiree kommen können, dass wir mit unserer Familie nach Washington fahren müssen, zu einem Protestmarsch, der uns betrifft. Vielleicht haben sie sich deswegen gestritten, womöglich sogar Schluss gemacht. Ich will ihm gut zureden, ihm sagen, wie wunderbar er immer war. So wunderbar wie seine Stimme. Vielleicht sogar besser. Aber sein starrer Blick lässt mich verstummen.
»Tja.« Seine Stimme klingt zittrig und tonlos. »Jetzt ist es passiert. Ein Kind.«
Ich denke: Jetzt hat sie sich tatsächlich einen noch jüngeren Liebhaber genommen. Doch dann begreife ich. »Sie ist schwanger?« Jonah sagt nicht einmal ja. Ich störe ihn nur bei der Suche nach einer Stelle, wo er sich abstützen kann. »Bist du sicher, dass du der ...«
Seine hochgezogenen Augenbrauen gebieten mir Einhalt. »Willst du jetzt meinen guten Ruf retten, Muli?«
Ich mache ihm einen heißen Zitronensaft und setzte mich ihm gegenüber auf den Fußboden. Es ist nicht so, wie ich denke.
»Ein Baby, Muli. Stell dir das vor!« Er klingt genau wie der kleine Junge, der vor langer Zeit die »Ode an die Freude« unter ein Foto des Sternenhimmels gekritzelt hat. »Ich habe gesagt: ›Ist es nicht toll? Wenn du mich heiratest, kann ich auf jeden Fall als der Vater des Kindes durchgehen, ganz gleich welche Hautfarbe es hat.‹« Er steht da mit leuchtenden Augen und geblähten Nasenflügeln, wie auf der Bühne, erfüllt von der irren Intensität, die sie ihn gelehrt hat. »Das kann man nicht von jedem behaupten, Joey!« Er kichert und lässt die Tasse fallen. Sie zerbricht, und er lacht noch lauter. Ich räume die Scherben weg, Jonah redet ununterbrochen weiter. »Sie ist verrückt geworden. Völlig über-geschnappt. Sie hat einfach nur geschrien: ›Weißt du, was das für meine Stimme bedeutet?‹«
Er versucht in den nächsten Tagen ein paar Mal bei ihr anzurufen, aber es geht niemand an den Apparat. »Sie tritt wieder in Cost auf. Ich warte einfach
Weitere Kostenlose Bücher