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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Gespräche. Lisette macht eine komische Nummer daraus und fährt Jonah durchs Haar. Jonah gibt sich alle Mühe zu grinsen. Bei der erstbesten Gelegenheit machen wir uns davon. Den gan-zen Rückweg über verflucht er sie.
    Er will sie gleich am Morgen anrufen. Ich sorge dafür, dass er wenigs-tens die drei Stunden bis neun Uhr wartet. Noch einmal sagt sie ihm am Telefon: Alles in Ordnung. Sie muss es mehrere Male versuchen, in verschiedenen Formulierungen, bevor er begreift. Keine Sorge: kein Baby.
    Er braucht länger, bis er den Hörer auf die Gabel gelegt hat, als Mahler für die Auflösung eines Akkords. Er ruft nach mir, obwohl ich direkt neben ihm stehe. »Joey. Ich verstehe das nicht.«
    »Falscher Alarm. Ihr solltet beide erleichtert sein.«
    »Das kann es nicht sein. Das hätte sie doch gesagt.«
    Ich bin nicht schwer von Begriff. Nur dumm. »Sie hat es verloren.« Ich höre die Worte. Verloren, in ihrer Unachtsamkeit.
    »Wann, eine halbe Stunde vor der Party? Deshalb hat sie so gestrahlt?« Er will, dass ich den Mund halte. Nie wieder soll ich ein Wort sagen. Aber mein Schweigen triebe ihn in den Wahnsinn. »Sie lässt es sich wegmachen, Joey. Womöglich ist sie jetzt schon unterwegs. Sie liebt uns, weißt du. Aber lieber bringt sie mein Baby um, bevor sie –«
    »Jonah, hör mal. Selbst wenn es von dir ist –«
    »Es ist von mir.«
    »Selbst wenn ... du weißt doch nicht, ob sie wirklich ...«
    Er weiß es. Er weiß, wo wir unser ganzes Leben verbracht haben.
    Pa ruft an und erzählt uns, was wir in Washington verpasst haben. »Alle Welt zusammen auf der Independence Avenue!« Jonah lässt es sich in allen Einzelheiten erzählen. Es interessiert ihn nicht, aber er braucht die Ablenkung.
    Die Zeit gibt Lisette Soer Recht. Keine Sorge: kein Baby. »Erledigt«, sagt Jonah mir. Und etwas in ihm hat sie gleich mit erledigt. Sie hat den Altersunterschied zwischen ihnen überbrückt, schneller als er vorhergesagt hatte. Er sitzt auf dem Klavierhocker, das Kinn auf die Knie gelegt, wie ein Fötus. Aber er ist älter als sie.
    »Sie wollte einfach nicht ihre besten Jahre dafür hergeben«, sage ich. Er hasst mich für diese Worte. »Sie wollte nicht, dass die Hormone ihr die Stimme verderben.« Sie wollte kein Baby. Wollte keinen Mann, der zwölf Jahre jünger war als sie. Wollte überhaupt keinen Mann. Keinen wie ihn.
    Er nickt und weist doch jeden meiner Beschwichtigungsversuche zurück. »Sie wollte kein schwarzes Kind. Keins mit dicken Lippen. Warum ein Risiko eingehen? Wenn erst mal was Schwarzes im Spiel ist, ist alles russisches Roulette.«
    Am Abend tobt er. Er schleudert einen Teller mit von mir gekochten Spaghetti zum Fenster hinaus. Er zerschellt auf der Straße, verfehlt nur knapp einen Passanten. Jetzt wo eine Tournee uns gut täte, haben wir keine Engagements. Aber er hätte auch ohnehin nicht singen können. Seine Stimme verliert ihre beiden obersten Oktaven. Er geht allein aus, und bei der Rückkehr riecht er nach Marihuana. Ich rede mit ihm über Nichtigkeiten, bis es Schlafengehenszeit ist. Jonah, kaum noch zu erkennen mit seinem aufgedunsenen Gesicht, sitzt nur dabei und kichert. Ich quassele auf einen Mann ein, der gar nicht mehr in der Lage ist zu antworten, besessen von dem Gedanken, dass der Rauch, den er inhaliert, seine Stimmbänder bereits zerstört hat.
    Eine Woche später fliegt in Birmingham die Baptistenkirche in der Sechzehnten Straße in die Luft. Wir sehen es im Fernsehen und in den zwei Zeitungen, die wir am nächsten Morgen kaufen. Die Kirche ist ein Trümmerhaufen: Ziegelsteine und Schlacke, Glasscherben und verbogenes Metall. Ich stehe neben dem wartenden Auto auf dem rußigen, eiskalten Bürgersteig vor unserem Haus, an dem Tag vor acht Jahren, und versuche mein Leben wieder zu erkennen. Ich starre dies neue Foto an und schlucke den Geschmack herunter, der mir die Kehle zuschnürt, den Geschmack von Erinnerung und Vorahnung.
    Die Bombenleger haben den alljährlich in der Kirche stattfindenden Jugendsonntag abgewartet. Die Explosion zerstört das Untergeschoss des Gotteshauses, wo die Kinder für diesen besonderen Anlass proben. Vier Mädchen werden getötet, drei Vierzehnjährige und eine Elfjährige. Mein Bruder kann den Blick nicht abwenden von ihren Fotos; immer wieder fährt er mit dem Finger über die strahlenden Gesichter, bis die Druckerschwärze völlig verwischt ist. Er ist wieder zehn Jahre alt und schmettert ein jubilierendes Duett für eine Gemeinde, die sich freut,

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