Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
Pausen, bis Jonah bereit zum Aufbruch ist. Durch das Murmeln der Konversation hindurch, wie ein Radiosen-der, der nur schwach durch das statische Knistern dringt, Erregt etwas meine Aufmerksamkeit. Die Hintergrundmusik dieser Party tritt plötz.-lich in den Vordergrund. Der Jazz, der aus den teuren Lautsprechern des Gastgebers kommt, ist aktueller Village-Sound, die großen Neuerungen, die Jonah und ich erst seit kurzem kennen.
    Die Melodie kommt mir bekannt vor, wie ein Name, der einem so vertraut ist, dass er einem nicht mehr einfällt. Ich schließe die Augen und gebe mich dem quälenden Gefühl des déjá-entendu hin. Ich bin sicher, ich kenne dieses Stück, kann jede Modulation voraussagen, aber benso sicher bin ich, dass ich das, was ich jetzt höre, noch nie gehört habe. Ich lasse mich in Richtung Plattenspieler treiben. Die Möglichkeit z u schummeln zerstört alle Hoffnung, dass ich noch selbst auf den Namen des Stückes komme.
    Ein hoch aufgeschossener Bursche in grüner Jacke und Plastik-Brillengestell, bleich und mager selbst nach den Maßstäben dieser Partys, steht neben der Stereoanlage und nickt im Takt der Musik mit dem Kopf »Was ist das?« Wir sind beide überrascht über die Eindringlichkeit, mit der ich das frage.
    »Ah! Das ist unser guter Miles.«
    »Davis?« Der Trompeter, der Juilliard abgebrochen hatte, zehn Jahre bevor wir kamen, und den Bebop zum Cool entwickelt hatte. Der Mann, der noch vor wenigen Jahren von der Polizei zusammengeschlagen und ins Gefängnis gesteckt worden war, weil er vor einem Club, in dem er spielen sollte, auf der Straße gestanden hatte. Ein Mann so schwarz, dass ich mich fürchten würde, wenn er mir auf dem Bürgersteig entgegen-käme.
    »Wer sonst?«, sagt der Grüne.
    »Ein Freund von Ihnen?« Schließlich nennt er ihn beim Vornamen. Kein abwegiger Gedanke, auf dieser Party der Musikelite.
    Aber nun starren die Augen mich durch die Plastikbrille feindselig an. »Ich mag diese Musik, Mann. Hast du da vielleicht was dagegen?«
    Ich trete einen Schritt zurück, hebe beschwichtigend die Hände, halte Ausschau nach meinem großen Bruder. Wofür hält sich dieses ver-hungerte Bleichgesicht? Selbst ich könnte ihn k.o. schlagen. Ich spüre, wie die Wut sich in mir aufbaut, weil ich genau weiß, dass ich nichts anderes tun kann als nachzugeben. Dieser Dreckskerl schuldet mir eine Entschuldigung, und stattdessen erwartet er eine von mir. Aber bei alldem nagt es weiter an mir, quält mich mehr als die Demütigung durch diesen weißen Neger. Die Musik. Ich muss wissen, woher ich sie kenne. Ich habe schon eine Unmenge Stücke von Miles Davis gehört, doch dieses hier noch nie. Aber die sonnenverbrannten Akkordcluster, modal, atavistisch, habe ich im Kopf, als hätte ich sie selbst komponiert. Und dann geht es mir auf: Das ist gar keine Originalkomposition. Kein Stück für Trompete, sondern für Gitarre. Das ist nicht Miles, den ich da wieder erkenne, sondern Rodrigo.
    Ich nehme dem Bleichgesicht die Plattenhülle aus den Händen. Meine Erregung hält ihn davon ab, mich dafür zu schlagen. Ich überfliege die Angaben, überlege, ob denn wirklich zwei Leute unabhängig vonein-ander auf die gleichen Ideen kommen können, genau wie die irrenden Seelen in der Wildnis der Wissenschaft, von denen Pa uns früher beim Essen erzählt hat. Der Titel auf der Hülle lautet Sketches of Spain. Ich bin der letzte Mensch auf dem ganzen Planeten, der davon hört: Die Arawjuez–Bearbeitung von einem Mann, der einmal auf Juil–liard war. Musik muss mindestens hundert Jahre abgelagert sein, bevor ich merke, dass sie da ist. Und mindestens hundert Jahre weit fort scheint mit der Tag, an dem Wilson Hart und ich uns hinsetzten, um herauszufinden, was hinter dieser Melodie steckte; mehr als ein Jahrhundert scheint es mir her, seit wir sie vierhändig spielten und ich das Improvisieren lernte.
    Will hatte Recht mit der Reconquista, Recht mit seiner Überzeugung, dass sich aus der Melodie noch etwas anderes machen ließ. Aber alles an diesen Skizzen mit ihren Trompetensoli ist anders als das, was Will und ich damals spielten – alles bis auf das Thema. Die Verbindungslinien laufen von Andalusien zur Sahara und wieder zurück, jede Kultur bedient sich aus der Tasche der anderen, ganz zu schweigen von den Taschen derer, die stehen bleiben und zuhören.
    Ich stehe da und höre, und mir kommen die Tränen. Es ist mir egal, ob dieser weiße Neger mich sieht. Ich höre den einsamsten Menschen, der mir

Weitere Kostenlose Bücher